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Die Astronauten

Die Astronauten

Titel: Die Astronauten
Autoren: Stanislaw Lem
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der Ereignisse können wir nur mutmaßen. Es ist denkbar, daß die große Katastrophe während des Endkampfes um die Beherrschung des energetischen Systems eintrat; es kann aber auch sein, daß man zuletzt einfach die Kontrolle über die komplizierte Maschinenwelt verlor, daß man sich über die Auswirkungen dieses einmal in Tätigkeit gesetzten Räderwerkes gar nicht im klaren war. Vielleicht aber gab es noch eine andere Ursache für die grauenvolle Selbstvernichtung dieser Lebewesen, und wer weiß, ob diese Deutung nicht die wahrscheinlichste ist, daß nämlich die unterliegende Partei zu einer letzten Möglichkeit griff, um sich vor dem Untergang zu retten: zu den Deuteronenladungen, die zur Vernichtung der Erde bestimmt waren.«
    »Und wann soll dies geschehen sein?«
    »Im April 1915 veröffentlichte ein junger belgischer Gelehrter eine Arbeit, in der er auf einen eigenartigen Sprung in der durchschnittlichen Jahrestemperatur der Venus hinwies. Die Werte, die er für einen Zeitraum von vierzehn Jahren zusammengestellt hatte, schwankten um vierzig Grad Celsius; im letzten Beobachtungsjahr hingegen wurden zweihundertneunzig Grad verzeichnet. Dieser abnorme Temperaturanstieg dauerte einen knappen Monat. Die Arbeit erschien während des Ersten Weltkrieges, und damals beschäftigte sich niemand mit astronomischen Phantastereien. Die Sache wurde als spekulative Anfängerarbeit eines jungen Forschers abgetan und geriet bald in Vergessenheit ...«
    Das Telefon summte. Oswatitsch rief den Astronomen in die Zentrale: Die Erde hatte sich gemeldet. Arsenjew ging hinaus.
    »Sind sie denn alle umgekommen?« wandte ich mich an Lao Tsu, der noch immer über das Pult gebeugt saß und mit einer großen Lupe Zeichnungen und Fotografien untersuchte. »Wie war das möglich? Warum flüchteten sie denn nicht selbst in die tiefsten unterirdischen Räume, dort, wo das schwarze Plasma ist ..., oder leben vielleicht an irgendeiner entlegenen Stelle des Planeten noch einige?«
    »Die Gewißheit haben wir natürlich nicht«, erwiderte der Chinese. »Und wenn wir trotzdem fest davon überzeugt sind, dann nur deshalb, weil wir in die überragende Geisteskraft dieser Wesen großes Vertrauen setzen. Das klingt wie Hohn; aber es ist tatsächlich so.«
    Ich schwieg.
    »Sich selbst vernichten im Glauben, daß man damit die ganze Welt vernichtet – das ist eine große und furchtbare Versuchung ...«
    Der Chinese kniff die Augen zusammen und blickte mich scharf an. Nach einer Weile trat Arsenjew in die Kabine. Er war sichtlich aufgeregt.
    »Hört«, rief er, »ihr erinnert euch doch noch an die Stelle des Rapports, die uns so in Erstaunen versetzte. Wir nahmen damals an, daß die etwaigen Insassen des Weltraumschiffes die Menschen nicht beachtet hätten, weil sie die ›anderen‹, die wirklichen Schöpfer der irdischen Zivilisation, suchten. Nun hat sich dieser Irrtum aufgeklärt! Man ist nämlich jetzt auf der Erde dabei, mit Hilfe unseres Materials die Übersetzung des Rapports noch einmal zu bearbeiten, und hier haben wir das erste Resultat: Sie suchten keineswegs die Schöpfer unserer Zivilisation oder irgendwelche Lebewesen, sondern forschten nach Einrichtungen, die imstande gewesen wären, die vernichtenden Ladungen abzufangen und auf die Venus zurückzuschleudern.«
    »Ja, das ist möglich«, sagte Lao Tsu und stand auf. »Wurde uns bereits der volle Text gesendet?«
    »Einstweilen noch nicht. Dubois will ihn mir in einer halben Stunde übermitteln. Du und Kollege Chandrasekar, ihr kommt dann bitte gleich mit mir hinüber in die Zentrale. Wir können bei der Gelegenheit die Fortsetzung der Berechnungen funken.«
    Der Mathematiker, der bis jetzt hinter der Isolationswanddes Marax gearbeitet hatte, tauchte zwischen den Verteilertafeln auf. Wie aus weiter Ferne hörte ich die Wissenschaftler miteinander reden.
    »So war also das Ende ...«, sagte ich. »Sie wollten uns vernichten. Eines aber ist mir unbegreiflich: Waren sie tatsächlich ihrer Veranlagung nach böse?«
    Nach meinen Worten trat Stille ein. Chandrasekar, der am Pult des Marax arbeitete, ließ die Hand mit dem Werkzeug sinken. »Ich glaube nicht daran«, erwiderte er.
    »Das heißt ...?«
    Chandrasekar warf das Kabelende, das er in der anderen Hand hielt, auf die Pultplatte. »Was wissen wir über die Bewohner dieses Planeten? Nichts. Wir wissen nicht, wie sie ausgesehen haben, wir können es nicht einmal mutmaßen, wir wissen nicht, wovon ihr Leben erfüllt war ... und von all
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