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Die Astronauten

Die Astronauten

Titel: Die Astronauten
Autoren: Stanislaw Lem
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Planeten Venus stellt ja nur eine Allegorie der irdischen Probleme dar. Diese Bedrohung schwebt auch nach dem Ablauf fast eines Vierteljahrhundertsnoch über uns. Vielleicht fördert sie den Roman, weil sie ihn aktualisiert? Vielleicht aber sehen diejenigen, die heute noch die »Astronauten« lesen mögen, in ihnen ganz einfach eine Geschichte voller Abenteuer, die allerdings von der Wahrscheinlichkeit weit entfernt sind? Ich kann zu dieser Frage nichts Vernünftiges sagen. Zugegeben, es würde mich wundern, wenn die »Astronauten« eine dauerhafte Position in meinem Werk einnähmen. Wenn nach weiteren zwanzig Jahren überhaupt noch jemand nach diesem Band greift, dann – meine ich – nicht mehr, um sich in kühnes Fantasieren zu versenken, sondern vielmehr, um über seinen Seiten zu lächeln, so wie wir manchmal über Jules Vernes Seiten lächeln. Denn dann werden der Kosmokrator und der Marax bereits die Patina des Altertümlichen angesetzt haben. Doch ob sie eine so geschätzte Position erleben werden – das ist die Frage.
    Stanisław Lem
    Vorwort zur 8. polnischen Auflage.
    Übersetzt von Klaus Staemmler

Erster Teil:
Erde in Not

Der tungusische Meteor
    In den frühen Morgenstunden des 30. Juni 1908 konnten Zehntausende von Bewohnern Mittelsibiriens eine außergewöhnliche Naturerscheinung beobachten. Am Himmel stieg eine blendendweiße Kugel auf, die sich mit rasender Geschwindigkeit von Südosten nach Nordwesten bewegte. Sie überflog das Jenisseier Gouvernement – eine Strecke von mehr als fünfhundert Kilometern – und brachte unter ihrer Bahn den Erdboden zum Beben, die Fensterscheiben zum Klirren; der Putz fiel von den Wänden, die Mauern bekamen Risse. In den Orten, wo der Meteor sichtbar wurde, versetzte ein gewaltiges Dröhnen Mensch und Tier in panischen Schrecken. Die Bergleute in den Goldgruben ließen ihre Arbeit stehen und liegen ... Man hielt das Ende der Welt für gekommen.
    Kurze Zeit nach dem Verschwinden des glühenden Balles erhob sich hinter dem Horizont eine riesige Feuersäule, und im Umkreis von siebenhundertfünfzig Kilometern waren Detonationen zu hören.
    In allen meteorologischen Stationen Europas und Amerikas registrierten die Seismographen die Erschütterung der Erdrinde. Die Luftwelle breitete sich mit Schallgeschwindigkeit aus und erreichte das 970 Kilometer entfernte Irkutsk nach einer Stunde, das 5000 Kilometer entfernte Potsdam nach 4 Stunden 41 Minuten, Washington nach 8 Stunden. Als die Welle nach 30 Stunden 28 Minuten erneut in Potsdam verzeichnet wurde, hatte sie, rund um die Erde, 34 920 Kilometer zurückgelegt.
    Während der folgenden Nächte zeigten sich über den mittleren Breiten Europas silbern leuchtende Wolken von so starkem Glanz, daß der deutsche Astronom Wolf in Heidelberg für einige Zeit das Fotografieren von Planeten unterbrechen mußte. Gigantische Staubmassen waren durch die Explosion in die höchsten Schichten der Atmosphäre emporgeschleudert worden und drangen nach einigen Tagen bis zur anderen Hälfte der Erdkugel vor. Der amerikanische Astronom Abbot, der sich damals gerade mit derartigen Untersuchungen beschäftigte, beobachtete, daß die Durchsichtigkeit derAtmosphäre gegen Ende Juni erheblich abnahm. Die Ursache dieser Erscheinung war ihm zunächst noch unerklärlich.
    Trotz ihrer riesigen Ausmaße fand die Katastrophe in der wissenschaftlichen Welt kaum Beachtung. Im Jenisseier Gouvernement kursierten noch geraume Zeit hindurch phantastische Gerüchte über den Meteor, in denen er zuweilen die Größe eines Hauses, ja sogar eines Berges erreichte. Man berichtete auch von Leuten, die ihn angeblich nach seinem Absturz gesehen hatten; die Einschlagstelle wurde jedoch in diesen Erzählungen gewöhnlich weit hinter die Grenze des eigenen Bezirkes verlegt. Die Zeitungen schlachteten zwar das Ereignis weidlich aus; aber niemand unternahm ernsthafte Nachforschungen, und allmählich geriet die ganze Angelegenheit in Vergessenheit.
    Dreizehn Jahre später las der Geophysiker Kulik die Beschreibung des Meteorenfalls von 1908 zufälligerweise auf einem alten Kalenderblatt. Nicht lange danach bereiste Kulik Mittelsibirien und überzeugte sich, daß im Volke die Erinnerung an die ungeheure Naturerscheinung noch immer lebendig war. Kulik erkundigte sich bei vielen Augenzeugen und konnte schließlich feststellen, daß der Meteor, von der Mongolei kommend, die weiten Ebenen überflogen hatte und irgendwo im Norden in die unwegsame, menschenleere Tundra
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