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Die Angst des Tormanns beim Elfmeter

Die Angst des Tormanns beim Elfmeter

Titel: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter
Autoren: Peter Handke
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Kühlschranks, auf dem eine Tortenschachtel stand. Bloch schaute ihr zu, wie sie, indem sie ihn immer noch nachahmte, von hinten die Tortenschachtel berührte. Da er ihr so aufmerksam zuschaute, stieß sie noch einmal mit dem Ellbogen nach hinten. Die Kuchenschachtel kam ins Rutschen und kippte langsam über die abgerundeten Kanten des Kühlschranks. Bloch hätte sie noch auffangen können, aber er schaute ihr zu, bis sie auf dem Fußboden aufschlug.
    Während die Pächterin sich nach der Schachtel bückte, ging er hierhin und dorthin, schob, wo er hinkam und stehenblieb, die Dinge von sich weg in den Winkel, einen Stuhl, ein Feuerzeug auf dem Herd, einen Eierbecher auf dem Küchentisch. »Ist alles in Ordnung?« fragte er. Er fragte sie das, was er von ihr gefragt werden wollte. Aber bevor sie antworten konnte, klopfte es draußen an die Fensterscheibe, wie ein Blitzableiterdraht nie an die Scheibe klopfen würde. Bloch hatte es schon einen Augenblick vorher gewußt.
    Die Pächterin machte das Fenster auf. Draußen stand ein Zollwachebeamter, der für den Heimweg in den Ort um einen Schirm bat. Bloch meinte, er könne gleich mitgehen, und ließ sich von der Pächterin den Schirm geben, der unter der Arbeitshose am Türrahmen hing. Er versprach, ihn am nächsten Tag zurückzubringen. Solange er ihn nicht zurückgebracht hatte, konnte nichts dazwischenkommen.
    Auf der Straße spannte er den Schirm auf; der Regen prasselte gleich so laut, daß er nicht hörte, ob sie ihm etwas geantwortet hatte. Der Zollwachebeamte kam an der Hauswand entlang unter den Schirm gelaufen, und sie gingen weg.
    Nach ein paar Schritten wurde im Wirtshaus das Licht abgeschaltet, und es wurde völlig finster. Es war so finster, daß sich Bloch die Hand vor die Augen hielt. Hinter der Mauer, an der sie gerade vorbeigingen, hörte er ein Schnauben von Kühen. Etwas lief an ihm vorbei. Das Laub neben der Straße raschelte. »Jetzt wäre ich fast auf einen Igel getreten!« rief der Zollwachebeamte.
    Bloch fragte ihn, wie er denn den Igel im Finstern gesehen habe. Der Zollwachebeamte antwortete: »Das gehört zu meinem Beruf. Wenn man nur eine Bewegung sieht oder ein Geräusch hört, muß man fähig sein, den Gegenstand zu erkennen,von dem Bewegung oder Geräusch stammen. Sogar ein Gegenstand, der sich am äußersten Rand der Netzhaut bewegt, muß erkannt werden, ja, es muß sogar möglich sein, seine Farbe festzustellen, obwohl man Farben eigentlich nur im Mittelpunkt der Netzhaut vollständig sehen kann.« Mittlerweile hatten sie die Häuser an der Grenze hinter sich gelassen und gingen auf einem Abkürzungsweg neben dem Bach her. Der Weg war mit einem Sand bestreut, der heller wurde, je mehr Bloch sich an die Finsternis gewöhnte.
    »Freilich sind wir hier ziemlich unbeschäftigt«, sagte der Zollwachebeamte. »Seitdem die Grenze vermint ist, findet kein Schmuggel mehr statt. So läßt die Angespanntheit nach, man wird müde und kann sich nicht mehr konzentrieren. Und wenn doch einmal etwas passiert, reagiert man nicht einmal.«
    Bloch sah etwas auf sich zulaufen und trat hinter den Zollwachebeamten. Ein Hund lief an ihm vorbei und streifte ihn.
    »Wenn dann einer einem in den Weg kommt, weiß man nicht einmal, wie man ihn fassen soll. Man steht von vornherein falsch, und wenn man einmal richtig steht, verläßt man sich darauf, daß der Kollege neben einem ihn kriegen wird, während der Kollege sich darauf verläßt, daß man selber ihn kriegt – und der Betreffende entwischt.« Entwischt? Bloch hörte, wie der Zollwachebeamte unter dem Regenschirm neben ihm Luft holte.
    Hinter ihm knirschte der Sand, er drehte sich um und sah den Hund zurückkommen. Sie gingen weiter, der Hund lief mit und schnupperte in seinen Kniekehlen. Bloch blieb stehen, brach neben dem Bach einen Haselnußzweig ab und jagte ihn weg.
    »Wenn man sich gegenübersteht«, fuhr der Zollwachebeamte fort, »ist es wichtig, dem andern in die Augen zu sehen. Bevor er losläuft, deuten die Augen die Richtung an, in die er laufen wird. Zur gleichen Zeit muß man aber auch seine Beine beobachten. Auf welchem Bein steht er? In die Richtung, in die das Standbein zeigt, wird er dann davonlaufen wollen. Will der andre einen aber täuschen und nicht in diese Richtung laufen, so wird er, gerade bevor er losläuft, das Standbein wechseln müssen und dabei so viel Zeit verlieren, daß man sich inzwischen auf ihn stürzen kann.« Bloch schaute zum Bach hinunter, den man zwar rauschen
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