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Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
Autoren: Jeannette Walls
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merkte, dass ich nicht mehr wütend auf sie war. »Mom, einiges von dem, was ich gesagt hab, tut mir leid. Ich weiß, das hat dir wehgetan.«
    »Es würde nicht wehtun, wenn es nicht so wahr wäre«, sagte Mom.
    »Manchmal bin ich richtig gemein«, sagte ich.
    »Entschuldige dich nicht dafür, dass du so bist, wie du bist«, sagte sie. »Und hab nie Angst davor, die Wahrheit zu sagen.«
    »Miss Clay in der Schule hat gesagt, ich hätte ein freches Mundwerk.«
    »Sie hat recht«, sagte Mom. »Und wenn du was draus machst, wirst du es mit diesem frechen Mundwerk noch weit bringen.«

49
    L iz blieb den ganzen Tag im Bett und schlief auch die Nacht durch. Am nächsten Morgen wollte sie noch immer nicht aufstehen. Nach dem Frühstück bat Onkel Tinsley mich, ihm dabei zu helfen, die Dachrinnen zu säubern. Wir kamen gerade von der Scheune zurück und trugen die Ausziehleiter aus Aluminium zwischen uns, als auf einmal die beiden Emus die Einfahrt hochkamen. Die Vögel schienen überhaupt nicht verängstigt. Sie neigten die Köpfe und schauten sich mit ihren riesigen, karamellfarbenen Augen in der Gegend um.
    »Die müssen irgendwie aus Scruggs’ Gehege ausgebüxt sein«, sagte Onkel Tinsley. »Scruggs hält seine Zäune nie richtig in Schuss.«
    Wir legten die Leiter auf den Boden. Die Emus betrachteten uns argwöhnisch, und ich lief ins Haus, um Liz zu holen, die sich rasch eine Jeans überstreifte und die Treppe runterrannte. Inzwischen spazierten die Emus Richtung Scheune und machten dabei dieses gurgelnde Trommelgeräusch tief in der Kehle. Sie bewegten sich mit langen, bedächtigen Schritten und wippten jedes Mal mit dem Kopf, wenn sie ein Bein hoben. Der kleinere Emu hatte einen Fuß zur Seite gedreht und zog ihn beim Gehen leicht nach, als hätte er sich da mal verletzt. Ihre Bewegungen waren irgendwie ungelenk und anmutig zugleich, und sie blickten ständig hin und her, als wollten sie sich gegenseitig versichern, dass ihnen keine Gefahr drohte.
    Onkel Tinsley beschloss, Scruggs zu verständigen, und ging ins Haus, um zu telefonieren. Als er wieder rauskam, sagte er, dass die Emus laut Scruggs eigentlich dessen Schwiegersohn Tater gehörten, der drüben im Tal arbeitete und erst übermorgen wieder zurückkäme. Tater war der Einzige, der wusste, wie man diese Vögel einfing, deshalb hatte Scruggs gefragt, ob es vielleicht möglich wäre, dass wir sie dabehielten, bis Tater kam.
    »Ich schätze, gute Nachbarn tun so was füreinander«, sagte Onkel Tinsley. »Aber wir müssen sie irgendwie auf die Wiese treiben.«
    Die Emus waren an der Scheune vorbei in den Obstgarten geschlendert. Sie standen ziemlich nah am Gatter der Hauptwiese, die mit einem alten Bretterzaun eingefasst war. Wir gingen langsam und mit ausgestreckten Armen hinter den Emus her und konnten sie so das kleine Stück bis zum Gatter treiben. Sobald sie hindurch waren, schloss Liz schnell das Tor und schob den Riegel vor.
    Später am Vormittag gingen wir mit Mom raus, um ihr die Emus zu zeigen, aber als sie sie aus der Nähe sah, fand sie die großen Krallen beängstigend und sagte, sie könne den Viechern nichts abgewinnen. Liz dagegen fand sie faszinierend. Während Onkel Tinsley und ich weiter die verstopften Dachrinnen sauber machten, in denen schon irgendwelches Grünzeug wuchs, lehnte Liz den ganzen Nachmittag am Zaun und beobachtete die Emus. Sie konnte es gar nicht fassen, dass diese beiden Emus, die so absolut seltsam aussahen, einfach bei uns aufgetaucht waren. »Sie wirken, als wären sie nicht von dieser Welt«, sagte sie, »wie Geschöpfe aus einer prähistorischen Zeit oder wie außerirdische Wesen von einem anderen Planeten oder vielleicht sogar wie Engel.« Sie glaubte, dass der größere ein Männchen und der kleinere ein Weibchen war, und sie nannte sie Eugene und Eunice.
    Liz liebte nicht bloß die Emus, sondern sie verliebte sich auch in das Wort »Emu«. Sie sprach es mal wie »Eemu« und mal wie »Emuu« aus, sodass es klang, wie das »Muh« einer Kuh, und sie ließ sich eine ganze Liste von tollen Wörtern einfallen, die sich auf »Emus« reimten, von »abstrus« über »konfus« und »Mus« bis hin zu »Fuß« und sogar »Humus«.
    Am Abend schlug sie in Onkel Tinsleys
Encyclopædia Britannica
nach und bombardierte uns mit Informationen über die Vögel: dass sie aus Australien kamen, dass sie rund 50  Stundenkilometer schnell laufen konnten, dass die Männchen die Eier ausbrüteten und dass ihr Gefieder die einzigartigen
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