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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
Autoren: Kai Meyer
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Sie tat ganz sicher das Richtige. Er würde ihr verzeihen.
    Erwartungsvoll sah sie zu, wie er das Glas an die Lippen hob. Der Wein benetzte seine Haut. Dann senkte er es wieder, ohne zu trinken.
    Er weiß es, redete sie sich ein, insgeheim will er es so. Aber dann schämte sie sich und hätte ihn beinahe aufgehalten.
    Doch er führte das Glas schon wieder zum Mund.
    Nahm einen Schluck. Lächelte sie an. Trank einen zweiten.
    Sie wollte etwas sagen. War plötzlich wie erstarrt. Wollte ihn warnen. Und um Verzeihung bitten.
    Während sie ihr eigenes Glas über die Klippe schleuderte, sah sie, wie ihm seines aus den Fingern glitt. Sie war bei ihm, noch während seine Knie nachgaben, umfasste ihn und legte ihn unendlich sanft am Boden ab. Sein Kopf sank in ihre Umarmung, sein Körper erschlaffte.
    Bevor er das Bewusstsein verlor, fing sie einen letzten Blick aus seinen schönen dunklen Augen auf. Diesmal erkannte sie etwas anderes darin. Begreifen. Und einen entsetzlichen Vorwurf.
    Benommen blinzelte sie Tränen fort, bettete seinen Kopf in ihrem Schoß und presste ihre Lippen auf seine. Sie verloren schneller an Wärme als die eines Toten.
    Er würde dreiunddreißig Stunden schlafen.
    Dann begann seine Unsterblichkeit.
     
    Zwei Tage später verließ Gillian das Schloss, und er verließ Aura.
    Er kehrte nicht zurück.

DIE GEGENWART
1924

KAPITEL 1
    Um Mitternacht, als wieder der Tod ins Schloss kam, schlug die Standuhr dreizehn Mal und sang mit hellen Vogelstimmen.

KAPITEL 2
    Das Zwitschern der Vögel schwebte wie ein körperloser Schwarm durch die Flure, die Treppen hinauf, vorbei an Messinglampen und brüchigen Ölgemälden, an verblichenen Samttapeten und Täfelungen.
    Tess hatte vor zwei Stunden das Licht gelöscht. Seitdem hatte sie kein Auge zugetan.
    Schon zu Beginn ihrer Schwangerschaft hatte sie entschieden, künftig früher zu Bett zu gehen. Aber immer wenn sie ins Schloss zurückkehrte, zu ihrer Mutter, den Dienern, dem Geruch des Parketts und Gesteins, horchte sie vor dem Einschlafen auf das Rauschen der Brandung an den Felsen. In Berlin hörte sie nachts nur das Knattern der Automobile auf dem Kopfsteinpflaster vor ihrem Haus, und so war es die See, die sie dort am allermeisten vermisste. Zuhause, während der Besuche im Schloss, wurde die Uhr zurückgedreht. Sie war wieder Kind, und das Wunderbare war, dass sie sich dann nur an die guten Tage erinnerte. Nicht an all das Schlimme. Daran fast überhaupt nicht.
    Die Vogelstimmen legten sich so unvermittelt über das Säuseln der See, dass Tess im ersten Augenblick an Möwen dachte. Ständig kreisten sie um die Insel, saßen auf den Kaminschloten und Giebeln oder schossen im Sturzflug an den Mauern hinab, um sich die Fische aus der Gischt zu greifen.
    Doch Möwen kreischten, sie zwitscherten nicht.
    Diese Vögel sangen, und sie taten es mit einer Hingabe, als sei um Punkt zwölf der Frühling ausgebrochen.
    Tess richtete sich auf. Wie immer war ihr Bauch im Weg. Der
siebte Monat war der furchtbarste bisher, und ganz gleich was ihre Freundinnen in Berlin behaupteten, die Vorfreude machte es kein bisschen angenehmer. Sie würde genug Zeit haben, um glücklich zu sein, wenn das Kind erst da war; aber bis dahin konnte sie gar nicht genug Flüche finden für das, was mit ihrem Körper geschah.
    Mit einem Ächzen schwang sie ihre Beine über die Bettkante und tastete mit den Füßen nach ihren Hausschuhen. Sie trug einen Schlafanzug für Männer, der viel zu groß war; nur um die Hüfte passte er wie angegossen. Es genügte, dass sie tagsüber diese furchtbaren Zelte tragen musste, wenigstens nachts wollte sie nicht auf Hemd und Hose verzichten. In Berlin kleideten sich mittlerweile viele Frauen wie Männer, und Tess war keine Ausnahme. Aber hochschwanger sah sie in ihren Sachen aus wie ein fetter Postbeamter. Darum hatte sie schließlich doch auf die schrecklichen Kleider zurückgegriffen, die die Kaufhäuser für Frauen in guter Hoffnung bereithielten. Tess’ größte Hoffnung war, dass sie nach der Geburt – überglücklich und so weiter – mit einem Fingerschnippen wieder ihre alte Figur zurückbekam.
    Die Vögel waren im Haus. Sie war jetzt ganz sicher: Das Zwitschern kam nicht durchs Fenster, sondern vom Korridor. Im Mondschein, der durch das Buntglas hereinfiel und den Raum in ein Kaleidoskop verwandelte, warf sie sich den Morgenmantel über und eilte zur Zimmertür. Dort blieb sie stehen, blickte in einem Anflug unverhoffter Zuneigung an sich hinab und
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