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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
Autoren: Kai Meyer
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strich sich mit der Hand über den Bauch.
    »Schlaf weiter«, flüsterte sie, verdrehte über sich selbst die Augen und trat hinaus auf den Flur.
    Das Zwitschern erfüllte das ganze Schloss, als hätten sich riesige Schwärme zwischen Dielenbrettern und Fußleisten, Holzdecken und Stuck eingenistet. Doch nirgends war ein einziges Tier zu sehen. Tess machte sich auf in Richtung Treppenhaus,
den leeren Gang hinunter, vorbei an all den unbewohnten Zimmern, bis sie die oberste Stufe erreichte. Dass sie nach dem Holzlauf des Geländers griff, war mehr Reflex als Notwendigkeit, zumindest redete sie sich das ein.
    Das Schloss war ungewöhnlich hellhörig, weder dicke Teppiche noch Vorhänge und massive Möbel konnten daran etwas ändern. Die Vogelstimmen verbreiteten sich wie Rauch zwischen den hohen Wänden und Eichentüren, wehten durch Treppenschächte und den Speiseaufzug, wirbelten um goldene Kronleuchter und Kristallkandelaber.
    Tess stieg die breite Wendeltreppe hinunter und erreichte das Erdgeschoss des Ostflügels. Schloss Institoris hatte die Form eines Hufeisens, die drei Flügel umschlossen einen dichten Zypressenhain. Vielleicht saßen die Vögel ja doch in den Bäumen und waren von etwas in Aufruhr versetzt worden. Einbrecher, dachte Tess, und damit kehrten Erinnerungen zurück, die sie gern unterdrückt hätte.
    Mit einem Mal kam sie sich sehr schutzlos vor in ihrem Morgenmantel am Fuß der Treppe. Ihre Erlebnisse mit Angreifern bei Nacht lagen lange zurück. Solche Erfahrungen hatte sie anderen Fünfundzwanzigjährigen voraus, aber sie machten sie kein bisschen abgebrühter. Kälte stieg an ihren Beinen empor und drohte sie zu lähmen. Irgendwo im Haus erklangen Rufe, dann Schritte.
    Erst langsam, schließlich immer resoluter setzte sie sich in Bewegung. Sie war schwanger, nicht behindert. Von einer Kommode nahm sie einen Kerzenleuchter und schwenkte ihn probehalber wie eine Keule.
    Die menschlichen Stimmen drangen aus der Eingangshalle herüber, aber das Vogelzwitschern kam aus der entgegengesetzten Richtung. Tess folgte dem Korridor in Richtung Küche. Vorher würde sie den Großen Salon passieren, außerdem –
    Die Tür zum Speisezimmer stand offen.

    Der Raum hatte sich in ein Tollhaus aus Vogelrufen verwandelt. Als Tess in den Türrahmen trat, erwartete sie, dass die Tiere auf allen Schränken und Bilderrahmen saßen, auf den Lehnen der hohen Eichenstühle, dass selbst die Tafel unter gefiederten Leibern verschwunden war.
    Aber der Raum war verlassen.
    Sie ließ den Kerzenleuchter sinken. Zwischen den beiden Bleiglasfenstern erhob sich eine monströse Standuhr. Zweieinhalb Meter hoch, aus schwarz lackiertem Holz, dominierte sie das Zimmer seit Tess denken konnte. Gedrechselte Säulen flankierten die polierte Holztür, der Rumpf war mit Schnitzwerk verziert. In die Zeiger des goldenen Zifferblatts hatte man Rubine eingelassen. Jeden Abend um sieben erschien aus dem Inneren der Uhr ein bizarres Figurenspiel.
    Es gab keinen Zweifel, dass die Vogelstimmen aus der Uhr drangen, ein grotesker, täuschend lebensechter Klangmechanismus, der – soweit Tess sich erinnern konnte – in dieser Nacht zum ersten Mal in Gang geraten war.
    Langsam umrundete sie die Tafel. Die meisten der hochlehnigen Stühle wurden seit Jahren nur noch beim Putzen bewegt. Darüber hing ein Leuchter aus funkelndem Kristallgeschmeide.
    Vor der Uhr blieb sie stehen und musste zum Zifferblatt aufblicken wie zu einem monumentalen Götzen. Ganz langsam hob sie die linke Hand und bewegte sie auf die Standuhr zu. Es gab kein sichtbares Pendel, lediglich die schwarz lackierte Tür, groß wie ein Sargdeckel. Darauf konnte sie ihr Spiegelbild erahnen, eine bleiche Gestalt mit ausgestreckter Hand. Jeden Moment würden sie sich berühren, Tess und das Gespenst, das dort im Holz gefangen war. Ihre Finger waren nur noch Millimeter davon entfernt – als das Vogelzwitschern verstummte.
    Die Stille trat derart abrupt ein, dass Tess zusammenfuhr wie unter einem schrillen Laut.
    »Fräulein Tess?«

    Die Stimme erklang in ihrem Rücken, kam von der Tür zum Korridor.
    »Fräulein Tess!« Der alte Diener, das Faktotum des Schlosses und einer der wenigen Angestellten, die auch die Nächte hier verbrachten, fuchtelte aufgeregt mit seinen dürren Armen. »Es ist etwas passiert, Fräulein Tess! Sie sollten lieber mitkommen.«
    Das Zwitschern hallte noch in ihren Ohren nach, und so dauerte es ein paar Herzschläge, ehe sie seine Worte gänzlich
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