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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
Autoren: Kai Meyer
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Gilgameschkraut geschenkt hatte, mochte vieles sein – gewiss jedoch kein Mittel gegen Augenringe und Selbstzweifel.
    Gillian war siebenunddreißig, sein Körper schlank und geschmeidig. Aura hatte ihm viele Male das ewige Leben angeboten, aber er hatte es stets ausgeschlagen. Und wenn sie ihn allein auf dieser Klippe sah, in Gedanken oder Erinnerungen versunken, dann konnte sie spüren, was ihn davon abhielt, unsterblich zu werden. Er war nicht unglücklich, nur rastlos.
    Früher oder später mussten sie fort von hier. Gian, ihr gemeinsamer Sohn, war erst neun Jahre alt. Er brauchte die Stabilität
einer Familie, brauchte seine Cousine Tess um sich, die wie eine Zwillingsschwester für ihn war; die beiden zu trennen war kaum vorstellbar. Und Sylvette, Auras jüngere Schwester, verhielt sich Gian gegenüber so liebevoll wie eine zweite Mutter. Manchmal schien sie mehr Mutter für ihn zu sein als Aura selbst.
    Es hing alles zusammen. Gillians Ablehnung der Unsterblichkeit; die unsichtbare Kette des Kindes, das sie im Schloss festhielt; und Auras Überzeugung, dass alles besser sein würde, wenn auch für ihn die Zeit keine Rolle mehr spielte.
    Viel später würde sie denken: Ich war erst sechsundzwanzig. Ich war naiv und selbstsüchtig. Ich wusste es nicht besser. Aber an jenem Tag auf der Klippe brannte die Überzeugung in ihr so heiß, dass sie alle Zweifel in Asche legte.
    Seine Augen waren noch immer auf ihre gerichtet. Sein Lächeln war so einzigartig wie er selbst. Gillian, der Hermaphrodit und ehemalige Auftragsmörder. Schauspieler und Meister der Maskerade. Gezeugt als alchimistisches Experiment bei dem Versuch, eine lebende Inkarnation des Steins der Weisen zu erschaffen.
    War da der Schatten einer Vorahnung hinter dem Glutrand, den der Sonnenuntergang um seine Pupillen legte? Sie musste den Blick senken, hinab zu der entkorkten Weinflasche und den beiden Gläsern, in denen sich das letzte Tageslicht brach.
    »Es fühlt sich anders an, wenn die Zeit an Bedeutung verliert«, sagte sie. »Dann ist es nicht mehr, als würde man etwas verpassen oder Zeit verschwenden — es gibt ja unendlich viel davon.« Das behauptete sie nach ganzen zwei Jahren Unsterblichkeit, als hätte sie schon ein paar tausend hinter sich. Im Grunde war es lächerlich. Sie wusste das – und er wohl auch.
    Wieder strich er ihr Haar zurück, weil der Wind es vor ihre Augen trieb. »Zeit bemisst nicht die Vergänglichkeit«, sagte er. »Zeit bemisst Veränderung. Ihr Unsterblichen seht die Dinge
wachsen, aber ihr könnt nicht mit ihnen wachsen. Und das soll erstrebenswert sein?«
    »Du sagst das so abfällig.«
    »Nein.« Er küsste sie erneut. »Du hast dich dafür entschieden, und du hattest deine Gründe.«
    Gründe?, durchfuhr es sie bitter. Es hatte keine Gründe gegeben. Nur eine Möglichkeit . Eine Tür, die sich für sie geöffnet hatte. Und sie war hindurchgetreten, ohne lange nachzudenken. Gründe? Nein, nur Leichtsinn. Und eine gehörige Portion Abenteuerlust.
    Es war dieser Ort, der Stammsitz ihrer Familie. Das Schloss hatte ihn mit seiner Schwermut angesteckt. Die düsteren Zimmer und Buntglasfenster, durch die niemals reines Licht fiel. Die langen Korridore und Fluchten, die Treppenhäuser und verwitterten Mauern. Und natürlich Gillians Erinnerung an seine Freunde vom Templum Novum, die er hier beim Kampf gegen Morgantus hatte sterben sehen. Dass ihm die Aussicht auf Unsterblichkeit im Schloss Institoris wie eine Bürde erschien, konnte sie ihm schwerlich verübeln.
    Aber wenn sie erst von hier fortgingen, dann würde auch er verstehen, was das ewige Leben ihnen beiden zu bieten hatte. Das war ihre tiefe, ehrliche Überzeugung.
    Sie löste sich sacht aus seiner Umarmung und bückte sich, um den Wein einzuschenken. Es war, als gösse sie flüssiges Abendrot in die Gläser. Der Sud, den sie zuvor in den Wein gemischt hatte, war unsichtbar.
    Als sie ihm ein Glas reichte, kreuzten sich abermals ihre Blicke. In seinen Augen lag ein Versprechen.
    »Du bist so viel mehr, als ich jemals vom Leben erwartet habe«, flüsterte er in den Wind.
    Sie neckte ihn mit leisem Lachen. »Du warst ein Straßenkind. Ich nehme an, deine Erwartungen waren nicht hoch.«
    Seine Hand strich über ihre Wange, sein Daumen berührte
ihr Kinn. »Ich dachte, da draußen ist die Welt und sie wartet nur auf mich. Aber du bist viel größer und besser als sie. Ich will immer bei dir sein, egal ob hier oder anderswo.«
    Das war beinahe eine Herausforderung.
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