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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
Autoren: Kai Meyer
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Boot passierte zwei Steinlöwen auf Kalksteinquadern, Wächter über die kleine Bucht am Fuß des Zypressenhains. Sanft legte es am Ende des Holzsteges an. Aura sprang an Land.
    »Danke«, sagte sie zum Bootsmann, als er ihr Gepäck auf den Steg hob und ihr folgen wollte, um es ins Schloss zu tragen. »Ich schaffe das schon.«
    Sie nahm ihren Koffer und die Tasche mit den Büchern, nickte ihm noch einmal zu und trat in den Schatten der Nadelbäume.
     
    Ihr einstiges Kinderzimmer hatte sich nicht verändert, seit sie vor siebenundzwanzig Jahren ins Internat aufgebrochen war. Damals war sie siebzehn gewesen, aufsässig, voller Wut auf ihren Vater. Und sterblich.
    Später, nach ihrer Rückkehr, hatte sie mit Gillian eines der größeren Schlafzimmer bezogen, ebenfalls im Ostflügel, möglichst weit entfernt von den Räumen ihrer Mutter im Westteil des Schlosses. Zwei Jahre später war Gillian gegangen.
    Seither hatte sie meist eines der zahllosen Gästezimmer benutzt. Doch nun hatte sie darum gebeten, dass man diesen Raum für sie vorbereitete. Zur Charlottes Bestattung kam sie als Tochter, nicht als Erbin des alchimistischen Vermächtnisses ihres Vaters, nicht als jemand, der nur auf der Durchreise vorbeischaute. Dieses Zimmer gehörte zu der Rolle, die sie drei, vier Tage lang zu spielen hatte, bis sie hoffentlich eine Ausrede fand, um wieder verschwinden zu können.

    Sie legte den Koffer aufs Bett und warf die Büchertasche daneben. Eigentlich hatte sie erwartet, dass Erinnerungen auf sie einstürzen würden. Aber ihr Leben war derart von der Vergangenheit durchdrungen, dass sie ihr heute eine Pause gönnten. Das große Bett mit den Eichenpfosten, die Kommode und der Schminktisch, die beiden Schränke und der riesige Kachelofen – nichts davon erfüllte sie mit mehr als sanfter Nostalgie.
    Sylvette war bei Auras Abreise ins Internat ein kleines Mädchen gewesen, ein hübsches Kind, das die schöne Frau, die später aus ihr werden sollte, bereits erahnen ließ. Bis zuletzt hatte sie ihre Mutter gepflegt und das Vermögen der Familie verwaltet. Es würde nicht leicht werden, ihr ohne Schuldgefühle in die Augen zu sehen. Während Aura Europa bereist und ganze Sommer lesend auf den Hotelterrassen der Riviera und Ägäis verbracht hatte, war Sylvette dem Irrsinn ihrer Mutter, ihrer Blindheit, ihrer metastasierenden Bösartigkeit ausgesetzt gewesen.
    Darüber würden sie sprechen müssen. Ganz sicher würde Sylvette die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen.
    Drei Tage, dachte Aura. Höchstens vier.
    Sie ging zum Fenster, legte die Hand an den Griff, hielt dann aber inne. Ein Lächeln erschien um ihre Mundwinkel. Das Buntglas war zur Darstellung eines großen Kessels zusammengesetzt, aus dem zwei Ferkel und ein Schwan mit Hörnern hervorschauten. Als Jugendliche hatte sie das Motiv gehasst, weil sie es kindisch gefunden hatte und überall im Schloss ernsthaftere Fensterbilder zu finden waren. Heute aber glaubte sie, dass ihre Mutter das Zimmer gerade deshalb vor über vierzig Jahren für sie ausgewählt hatte. Das Motiv mochte der Bildsprache der Alchimie entstammen, aber Ferkel und Schwan waren Tiere, die einem kleinen Mädchen gefallen konnten. Und Aura erinnerte sich dunkel, dass sie die drei Figuren im
Kessel tatsächlich einmal gemocht hatte, mit fünf, sechs, sieben Jahren. Charlotte hatte es gut gemeint, damals, als sie noch bei Sinnen und voller Zuneigung für ihre neugeborene Tochter gewesen war. Sie war eine warmherzige Mutter gewesen, bevor Nestors Kälte und Selbstsucht eine verbitterte Frau aus ihr gemacht hatten.
    Mit einem Ruck zog Aura am Fenstergriff. Salzkrusten bröckelten vom Rahmen, als das Buntglas knirschend nach innen schwang. Seeluft wehte herein, strich um ihre Wangen und fuhr in ihr schwarzes Haar. Es war kürzer als früher und zum Bubikopf frisiert, wie es in London und Berlin jetzt Mode war.
    Sie trug Pullover, Jackett und eine weite Hose, alles in Schwarz wie eh und je. Die Jahre seit Kriegsende hatten viele Veränderungen gebracht, aber kaum eine war ihr so willkommen wie die neue Freiheit der Frauen. Weil es ihrem Lebensstil zupass kam, kleidete sie sich leger und bequem; die wallenden Röcke ihrer Jugend waren Vergangenheit.
    Auras Zimmer lag am südlichen Ende des Ostflügels. Wenn sie sich ein wenig ins Freie beugte, konnte sie links in der Schlossmauer die Fenster der Kapelle sehen. Hundert Meter weiter draußen auf dem Meer thronte die Friedhofsinsel der Institoris,
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