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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Autoren: Kai Meyer
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hätte ich davon? Bis die anderen hierher geschwommen sind, bist du längst über alle Berge.«
    Er stieß Tess weiter, grober als zuvor, und Aura musste sich zusammenreißen, um nicht auf den Schmerz und die Furcht in den Au-gen des Mädchens zu reagieren. Aber es war wichtig, dass sie ruhig blieb, so gelassen, wie Cristóbal selbst zu sein vorgab. Dabei waren sie alle so gespannt wie Bogensehnen; die Frage war nur, wer den spitzeren Pfeil verschoss.
    Natürlich hatte er Recht: Sie wollte Zeit gewinnen. Allerdings nicht für Konstantin oder Gillian. Zeit für den dunklen Schemen, der sich schon vor einer Weile lautlos hinter ihm aus dem Wasser erhoben hatte. Cristóbal machte zwei Schritte, dann blieb er abermals stehen. »Raffael ist tot?« Aura nickte und sprach sehr ruhig, fast bedächtig. Sie wollte, dass er jedes Wort genau verstand und sich das Bild in seinem Kopf ausmalte. »Ein Mann namens Fuente hat ihn umgebracht. Enthauptet.« »Ist das wahr?«, fragte er mit bebender Stimme. Sie nickte, bemüht, ihre Augen nicht zu bewegen. »Er ist tot«, sagte sie. Und dann, fast wispernd: »Wie du, Philippe.« Innana breitete hinter ihm ihre Arme aus, ein schwarzer Todesvogel, der seine Schwingen spreizt, um sich in die Luft zu erheben. Cristóbal hörte das Triefen von nassem Stoff. Innana ließ ihm keine Zeit, sich umzudrehen. Sehr schnell, sehr gezielt rammte sie ihm ihre Haarnadeln mit aller Kraft in die Schläfen.

KAPITEL 26
    Die Nacht lag über der Sierra und dem einsamen Haus am Ende der Landzunge. Jemand hatte ein paar Fackeln entzündet und in den Uferschlick am Anfang des Landungssteges gesteckt. Konstantin war das gewesen, glaubte Aura, aber sie war nicht sicher, weil die letzten ein, zwei Stunden wie im Traum an ihr vorübergezogen waren, voller Gesichter und Stimmen, Umarmungen mit Gian und Tess, einem langen Kuss von Konstantin, den sie erwidert hatte, aber irgendwie auch nicht, und dann die Begegnung mit ihm – mit Gillian.
    Er hatte sie geküsst, auf die Stirn und auf beide Wangen, und sie war sich dabei sehr sonderbar vorgekommen, seltsam fremd und fern von sich selbst, so als betrachte sie sich von außen und mit einer Distanz, die sie ein wenig verstörte, aber auch beruhigte. Es war nicht, wie sie es sich vor Jahren vorgestellt hatte – sei ehrlich: noch vor kurzem –, kein Wiedersehen mit dem Gefühl, alles könne verge-ben werden, die Wunden wären geheilt von der Zeit, und alles könnte sein wie früher.
    So war es nicht. Und so würde es niemals sein.
    Zu zweit gingen sie am Seeufer entlang, sprachen leise miteinander, verdichteten acht Jahre auf wenige Sätze und erkannten wohl beide, wie sehr sie sich verändert hatten. Und doch waren sie, tief drinnen, noch immer dieselben wie damals, als Aura Gillian in das Laboratorium ihres Vaters geführt hatte, in den Garten unter dem Dach, wo das Kraut der Unsterblichkeit auf Nestors Grab gedieh.
    Ihre Vertrautheit war noch die gleiche wie früher, und es gab sogar Dinge, über die sie heute endlich reden konnten, die sie damals voreinander verborgen hatten, aus Rücksicht – oder auch um sich selbst zu schützen. Sie sprachen über ihre gemeinsame Vergangenheit wie über die Beziehung zweier Freunde, guter Freunde, aber doch zwei anderer Menschen. Auch über Gian sprachen sie, denn ihr Sohn hat-te Gillian auf der Insel gebeichtet, was er getan hatte, und sie wuss-ten beide noch nicht recht, wie sie damit umgehen sollten.
    Sie entfernten sich immer weiter vom Licht der Fackeln an der Anlegestelle, gingen tiefer hinein in die Dunkelheit der Nacht. Dennoch konnten sie einander gut sehen, der Himmel war klar, und ihre Haut schimmerte wie mit Sternenstaub gepudert. Die Gestirne funkelten über den Kuppen der Sierra, und der Halbmond spiegelte sich als treibendes Silbergarn auf dem schwarzen See.
    Zuletzt berichtete Aura ihm alles, was sie über Innana wusste. Über das, was das unsterbliche Mädchen zu ihr gesagt hatte, oben auf den Zinnen des Turms.
    »Ich hab schon mit ihr gesprochen«, sagte Gillian. »Vorhin.«
    »Dann hat sie dir alles erzählt?«
    »Sie will nicht mehr allein bleiben. Kannst du ihr das verübeln?«
    »Natürlich nicht.« Sie erinnerte sich an Innanas Worte: Er, der kein Mann ist. Sie, die keine Frau ist. Eine Geschöpf der Alchimie. Das Kind des Morgantus. Ich will den Hermaphroditen, Aura. »Was genau hat sie zu dir gesagt?«
    Er lächelte, und im Sternenlicht sah er sehr melancholisch aus. »Sie will bei einem von uns beiden
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