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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Autoren: Kai Meyer
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die Stadt der Liebenden –, doch wer immer den Einfall gehabt hatte, hatte nicht an das Erwachen am nächsten Morgen gedacht. Wer will schon als erstes sich selbst sehen, mit verquollenen Augen und zerzaustem Haar. Als käme man nicht früh genug ins Bad.
    Doch es war nicht die Flut ihres pechschwarzen Haars, nicht die Ringe um ihre blassblauen Augen, nicht ihre weiße Haut auf den weißen Laken, die Aura abrupt aus ihren Gedanken rissen. Ein Eimer Eiswasser hätte sie nicht gründlicher aufwecken können.
    Ein dunkelroter Fleck hob sich wie eine Wunde von dem Weiß des Lakens ab.
    Aura glitt unter der Decke hervor und sprang aus dem Bett. Entsetzt, fasziniert, neugierig starrte sie auf den Fleck.
    In ihrem Leben hatte sie genug Blut gesehen, um zu erkennen, wann sie welches vor sich hatte. Sie hatte nackt geschlafen, und ein kurzer Blick auf ihre Schenkel bestätigte, dass dies nicht ihr eigenes war.
    Es war der Abdruck einer Hand, genau dort, wo ihr Unterleib gelegen hatte.
    Eine Hand aus Blut.
    Eine Hand mit sechs Fingern.
    Eine Kiste voller Bücher. Damit hatte es begonnen.
    Damals, vor über einem Jahr, hatte Aura zum ersten Mal vom Verbum Dimissum gehört. Und nun war sie hier, dreizehn Monate später, und sie kannte noch immer nicht mehr als diese beiden Wörter, die selbst nichts anderes als ein Wort bezeichneten.
    Verbum Dimissum. Das Verlorene Wort.
    Die Bücher, in denen sie darauf gestoßen war, hatten ihrem Vater gehört. Nestor Nepomuk Institoris war seit siebzehn Jahren tot. Die Frachtpapiere der Bücherkiste verrieten, dass sie vor neunzehn Jahren, im Sommer 1895, in Boston aufgegeben worden war, von einem Buchhändler, der seither wie vom Erdboden verschluckt war. Niemand in Boston kannte ihn, die Adresse auf den Frachtpapieren existierte nicht mehr. Das nüchterne Begleitschreiben der Reederei erklärte ihr, die Kiste sei aus Gründen, die sich nicht mehr nachvollziehen ließen, nach Buschir am Persischen Golf fehlgeleitet worden, von dort aus nach Tamatave auf Madagaskar, um schließlich auf Zypern zwischengelagert zu werden. Dort hatte sie siebzehn Jahre in einem Lager am Hafen gestanden, begraben unter anderen Fundstücken, um schließlich bei Abrissarbeiten entdeckt und weiter geschickt zu werden, erst zurück nach Boston und von dort aus erneut an die ursprüngliche Empfängeradresse, die man in alten Frachtpapieren im Archiv entdeckt hatte. Man bedaure dieses Versehen außerordentlich, sehe sich jedoch außerstande, eine Entschädigung für eventuelle Verluste anzubieten. Man verbleibe dennoch mit den allerfreundlichsten Grüßen. Hochachtungsvoll. Als die Diener die Kiste schließlich durch das Portal von Schloss Institoris geschleppt und auf dem Teppich vor dem Kamin abgestellt hatten, war dies der Endpunkt einer Odyssee gewesen, um die manch ein Abenteurer die schlichte Eichenholzkiste beneidet hätte.
    Mehrere Monate lang hatte Aura den Inhalt studiert, über einiges die Stirn gerunzelt, anderes bestaunt, das meiste jedoch als belanglos verworfen. Auf einigen der vielen tausend Seiten, manchen noch aus der Frühzeit des Buchdrucks, war sie auf den Begriff des Verbum Dimissum gestoßen. Schließlich hatte er sie so fasziniert, dass sie einige der Bände, die sie ursprünglich beiseite gelegt hatte, abermals hervorzog und im einen oder anderen weitere Details entdeckte. Nein, keine Details. Fragen. Denn daraus bestanden all die Erwähnungen, Querverweise und Fußnoten: aus Fragen über Fragen.
    Das Verbum. Das erste Wort der Schöpfung.
    Im Anfang war das Wort, schrieb der Evangelist Johannes. Und das Wort ward Fleisch.
    Und zwischen all den Rätseln, die sich um diese und andere Erwähnungen gruppierten, zwischen all den religiösen Traktaten, den pseudohistorischen Untersuchungen und ja, den alchimistischen Deutungsversuchen, zwischen all diesen Worthülsen, Ideenspielen und Gedankenklaubereien versteckten sich die zentralen, die wichtigsten Fragen: Wo, wenn es denn je existiert hatte, befand sich das Verbum Dimissum heute? Wo und wann war es verloren gegangen? Und wer hatte es zuletzt gehört, gelesen oder ausgesprochen?
    Falls es der Abdruck einer Hand war, und daran hatte sie kaum einen Zweifel, dann musste es die eines Mannes sein. Die Finger waren fast anderthalbmal so lang wie ihre eigenen, und der überzählige war ein zweiter Mittelfinger, exakt so groß wie sein Gegenstück.
    Aura zog den Gürtel ihres Morgenmantels fester um ihre Taille, zum zweiten oder dritten Mal.
    Jemand war
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