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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Autoren: Kai Meyer
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seine unangenehme Aufgabe mit Würde, aber auch voll unterschwelligem Zorn auf den Professor.
    Dabei, und das wusste Tess nur zu genau, gab Gian nicht wirklich Goldstein die Schuld an seinem Dilemma. Seit ein paar Wochen erging er sich mehr und mehr in wütenden Tiraden über seine Mutter, die sie beide, wie er meinte, hierher abgeschoben hatte. Und das, wo es zu Hause zum ersten Mal interessant wurde – seine Worte, nicht die von Tess. Im Gegensatz zu ihm schämte sie sich keineswegs, ihre Angst vor dem heraufziehenden Krieg einzugestehen. Ihr war es recht, dass Aura sie mit Goldstein nach Mesopotamien geschickt hat-te. Ihr gefielen die Wüste und die Arbeit auf der Ausgrabungsstätte. Nicht einmal die verstohlenen Blicke der arabischen Arbeiter störten sie, die ein so blondes und hellhäutiges Mädchen wie sie noch nie gesehen hatten.
    »Der Ritter wird nicht kommen, weißt du«, sagte Gian, ohne sie anzusehen.
    Sie runzelte die Stirn. »Ich hab dir gesagt, dass ich nicht auf ihn warte.«
    »Ist das die Wahrheit?«
    »Ich hatte bisher keinen Grund, dich anzulügen. Warum sollte ich jetzt damit anfangen?«
    »Es ist nicht gerade normal, dass man mitten in der Wüste Ritter in voller Rüstung sieht.«
    Sie machte einen Schmollmund, auch wenn sie lieber etwas getan hätte, das sie hätte erwachsener erscheinen lassen. »Ich hätte dir nie von ihm erzählen sollen.«
    Er gab keine Antwort, und das beunruhigte sie noch mehr als seine Vorwürfe oder die Tatsache, dass er sie als nicht normal bezeichnet hatte. Das waren sie beide nicht, und Gian wusste es ebenso gut wie sie. Es war nicht normal, wenn man die Fähigkeit besaß, auf die Erinnerungen längst gestorbener Vorfahren zurückzugreifen. Wenn man sich an Dinge erinnern konnte, die andere erlebt hatten, vor Hunderten von Jahren.
    »Ich hab nachgedacht«, sagte er. »So?«
    »Über den Ritter.«
    »Herrgott, Gian!«
    »Nein, im Ernst. Ich meine, du weißt doch, woher er stammen könnte.«
    »Aus Nestors Erinnerungen? Oder aus denen von Lysander?«
    Er nickte »Nein«, sagte sie fest. »Das glaube ich nicht. Ich hab ihn gesehen. Mit meinen Augen. Das war keine Erinnerung, und schon gar keine Einbildung. Außerdem müssen wir beide zusammen sein, damit es funktioniert – anders klappt es nicht.«
    Sie spürte, dass ihm etwas unangenehm war. Verheimlichte er ihr etwas? Nein, unmöglich. Gian und sie hatten nie Geheimnisse voreinander gehabt. Nur deshalb hatte sie ihm überhaupt von dem Ritter erzählt.
    »Wenn nun irgendwas die Erinnerung… hm, ich weiß nicht, wenn etwas sie ausgelöst hätte? Auch ohne mich?«
    »Wie meinst du das? Wir haben uns geschworen…«
    »… die Vergangenheit ruhen zu lassen. Sicher.« Er sprach leise, fast ein wenig schuldbewusst. Tess konnte sich sein Verhalten nicht erklären. Aber vielleicht deutete sie auch einfach zu viel in seine Worte hinein. Sie selbst hatte sich in letzter Zeit verändert. Das Auftauchen des Ritters hatte sie stärker verunsichert, als sie sich eingestehen mochte.
    Gian winkte ab. »War nur so eine Idee.«
    Sie war nicht bereit, ihn so einfach davonkommen zu lassen. Sie hasste es, wenn Dinge zwischen ihnen unausgesprochen blieben. Dafür kannten sie sich zu gut. »Wir haben uns geschworen, nicht mehr auf diese Erinnerungen zurückzugreifen. Wir haben es beide geschworen, Gian. Du warst damit einverstanden.« Sie versuchte ihm in die Augen zu sehen, doch er blickte rasch hinab zu den Ausgrabungen. »Bereust du das jetzt etwa?«
    »Nein«, sagte er zögernd. »Nein, nicht wirklich.«
    Sie schnaubte und zog sich den Pferdeschwanz über die Schulter vor die Brust. »Ich will solche Erinnerungen nicht, ganz egal, wem sie gehören. Die meisten waren schlimmer als meine schlimmsten Albträume.« Sie hatten oft genug gesehen, welche Verbrechen ihre Vorfahren Nestor und Lysander im Zuge ihres Strebens nach der Unsterblichkeit begangen hatten. Die Männer waren Schüler des Tempelritters Morgantus gewesen, und von ihm hatten sie gelernt, wie man sich dem Tod widersetzte. Alle drei zeugten Mädchen, und so-bald diese volljährig waren, zeugten sie mit ihnen weitere Töchter, Generation um Generation, eine endlose Inzestkette. Wenn die Frauen selbst wieder Kinder geboren hatten, wurden sie getötet, um aus ihrem Blut das Elixier des Lebens zu gewinnen. So erging es jeder von ihnen, Tochter um Tochter um Tochter.
    All die toten Mädchen. So viel Blut. »Ich hasse diesen Ort«, sagte Gian.
    Sie folgte seinem Blick über die
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