Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
er einen raschen Abstecher in ihr Zimmer gemacht, um einen Blick auf das fremde Mädchen mit dem weißblonden Haar zu werfen.
    Ja, das war die Erklärung. Und obwohl sie die Tatsache, dass ein Fremder in ihr Zimmer eingedrungen war, hätte beunruhigen müssen, verspürte sie nichts als Erleichterung. Sie hatte Gian zu Unrecht verdächtigt.
    Warum war sie nicht gleich in sein Zimmer gegangen und hatte sich vergewissert, dass er in seinem Bett lag?
    Die Kälte drang durch ihr Hemd, aber das bemerkte sie erst, als sich ihr Herzschlag allmählich beruhigte. Sie bekam eine Gänsehaut. Die Schatten hinter dem Tisch, neben dem Tresor und sogar unter der Decke des Raumes waren so schwarz wie der Nachthimmel zwischen den Sternen. Auch der Vorraum hinter ihrem Rücken war erfüllt von einer Dunkelheit, die ihn fremd und unheimlich erscheinen ließ. Dies war nicht mehr der vertraute Raum, in dem sie aßen, Karten spielten oder den Geschichten des Professors lauschten.
    Sie schaute zurück zur offenen Außentür und sah dahinter die Dünen im Sternenlicht. Die Sandhänge waren jetzt grau und hätten ebenso gut aus Eis sein können.
    Der Riegel war beiseite geschoben. Die Tür ließ sich von außen nicht öffnen. Jetzt aber war sie offen. Jemand hatte sie von innen aufgemacht.
    Die Kälte auf ihrer Haut war jetzt nicht mehr nur eine Folge der Wüstennacht. Tess legte sich die Arme um ihren Oberkörper, aber auch davon wurde ihr nicht wärmer. Zögernd durchquerte sie den dunklen Raum und blickte durch die Außentür ins Freie.
    Die Fußspuren im Sand führten vom Haus fort, nicht zu ihm hin.
    Die einzelnen Abdrücke lagen weit auseinander, so als sei derjenige gerannt, nicht gegangen.
    Bitte nicht, dachte Tess. Bitte, bitte nicht.
    Sie trat ins Freie und schaute sich um. Die Spuren führten zur Ecke des Hauses und verschwanden dahinter.
    Du solltest das nicht tun, durchfuhr es sie. Geh wieder ins Bett! Schlaf weiter! Tu einfach so, als sei nichts gewesen!
    Doch natürlich folgte sie den Spuren trotzdem, vorbei an der gelbbraunen Ziegelwand des Hauses, dem einzigen gemauerten Gebäude des Lagers. Rechts von ihr befanden sich eine Reihe von Holzschuppen, dahinter die Zelte der Arbeiter. Sanfter Feuerschein glomm an vereinzelten Stellen, aber sie hörte keine Stimmen. Die Arbeit auf der Grabungsstätte war hart, die wenigsten Männer brachten nachts noch die Kraft auf, mit Freunden am Lagerfeuer zu sitzen.
    Die Fußspuren führten nicht zu den Arbeiterzelten, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Dort standen, vor einem steilen Dünenhang, eine Hand voll weiterer Werkzeugschuppen, voll gestopft mit Ersatzgeräten. Dorthin ging nur selten jemand. Wenn überhaupt, dann nur, um nicht gesehen zu werden. Um sich zu verstecken.
    Tess folgte den Spuren im Sand und hatte das Gefühl, unsichtbare Hände drückten ihr die Kehle zu. Sie hatte keine Angst vor einer Gefahr. Vielmehr fürchtete sie sich vor dem, was sie finden mochte. Wen sie dort finden mochte.
    Sie erreichte den ersten Schuppen, etwa sechzig Meter vom Haus entfernt. Umrundete ihn.
    »Hallo?«
    Keine Antwort. Nur das Säuseln des Wüstenwindes.
    Die Spur führte am ersten Schuppen vorbei und tauchte in die Schatten zwischen zwei anderen Bretterverschlägen.
    Hinter ihnen wuchs die Düne empor wie der Rücken eines toten Wals, zurückgelassen von einer längst vergessenen Sintflut. Täuschte sie sich, oder roch es nach Qualm? Aber hier war es überall dunkel, keine Spur von einem Feuer. Vielleicht trug der Wind die Rauschwaden vom Lager herüber.
    Die Tür des Zahlzimmers war von jemandem geöffnet worden, der sich im Haus aufgehalten hatte. Nur der Professor, seine Frau und Gian kamen in Frage, niemand sonst.
    »Gian?«, rief sie in die Finsternis zwischen den Schuppen.
    Er ließ sich Zeit. Tess hatte das dichte Gewebe aus Schatten fast erreicht, ehe sie ihn sah. Er stand da und erwartete sie, ein wenig zögernd und mit Trotz in den Augen, der seine Unsicherheit kaschieren sollte.
    »Was soll das?«, fragte sie mit belegter Stimme. »Was meinst du?«
    Zornig machte sie einen weiteren Schritt auf ihn zu, bis nur noch eine Armlänge sie voneinander trennte. Irgendwo in der Ferne schrie eines der Kamele; es klang, als hätte es Schmerzen.
    »Du weißt ganz genau, was ich meine!« Was war schlimmer: Sein Vertrauensbruch oder dass er jetzt versuchte, sie für dumm zu verkaufen? »Du warst in meinem Zimmer.«
    »So?«
    Seine Stimme klang sonderbar. Belegt wie ihre eigene, aber mit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher