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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Autoren: Kai Meyer
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hätte in einem Hotel wie diesem zu viel Aufsehen erregt.
    Der Korridor war verlassen. Rechts und links reihten sich Türen wie in einem Gefängnis aneinander. Flimmernde Gaslichter in engen Abständen an den Wänden, zuckender Schein, knochenfarben. Aus einem Zimmer drang leises Kichern, alt und weiblich. Aura spürte, wie allein das Geräusch ihr Übelkeit bereitete. Dann verstummte es wieder, und durch eine andere Tür glaubte sie Flüstern zu hören. Verstohlenes Wispern.
    Er war noch hier. Irgendwo. Sie konnte es spüren. Nur Einbildung, nichts sonst.
    Ein Knirschen am Ende des Flurs ließ sie herumwirbeln. Ein Zimmermädchen schob einen Wagen mit frischer Bettwäsche auf sie zu und beobachtete Aura verstohlen, als sie an ihr vorüberging. Aura trat einen Schritt zurück, um sie durchzulassen, dann ging sie in entgegengesetzter Richtung auf das Treppenhaus zu. Kurz bevor sie den Flur verließ, spürte sie Blicke in ihrem Rücken, blieb stehen und schaute über die Schulter zurück. Der Wäschewagen stand verlassen mitten im Gang, das Mädchen war fort. Alle Türen waren geschlossen.
    Aura eilte die Treppe hinunter. Gedämpfte Schritte auf hohem Teppich. Ganz kurz fragte sie sich, ob das weiße Ding am Boden neben dem Wagen die Haube des Zimmermädchens gewesen war. Es musste sie verloren haben.
    Aura war spät dran, es war bereits Mittag. In der Eingangshalle saß eine Gruppe alter Männer und Frauen auf Sesseln am Fenster. Die meisten lasen Zeitung. Ein Mann mit mehr Ringen an den Fingern als Zähnen im Mund grinste sie an und durch sie hindurch. Alle blickten auf, als Aura, schwarz wie der Tod, an ihnen vorüberglitt. Vielleicht hatte der eine oder andere sie einen Augenblick lang tatsächlich dafür gehalten. Dabei gab es doch in Auras Körper längst nichts mehr, das sterben konnte. Nur Leben, ewiges Leben.
    Sie atmete erleichtert auf, als sie endlich auf der Straße stand. Die Nähe der alten Menschen verstärkte ihre Übelkeit, eine Nebenwirkung des Gilgamesch-Krauts.
    Sie wechselte die Straßenseite und stützte sich einen Moment mit einer Hand auf die Ufermauer. Schließlich drehte sie sich um und blickte an der Fassade des Les Trois Grâces empor.
    Durch ein Fenster ihrer Suite beobachteten sie dunkle Augen in einem weißen Gesicht.
    Himmel, ebenso gut mochte es die Suite nebenan sein, vielleicht sogar die übernächste. Vielleicht hatte sie sich in der Etage geirrt. Nur ein Mann, der auf den Fluss blickte und die Boote zählte.
    Aura lehnte sich gegen die hüfthohe Mauer, atmete tief durch.
    Finger aus Blut. Zwei Mittelfinger wie Fangzähne in einem Raubtierkiefer.
    Automobile lärmten vorüber. Ein Kutscher fluchte.
    Eine Stimme sprach sie an, ein Mann in schmuddeliger Kleidung. Er trug einen Bauchladen mit Rosen aus schwarzem Glas. Unwirsch winkte sie ihn fort. Er lächelte, nickte ihr zu und ging weiter.
    Wind kam auf. Vom anderen Ufer drang Lärm herüber wie ein fernes Rauschen.
    Ein Junge mit schmutzigem Gesicht lief auf sie zu. Die weiße Kluft des Zimmermädchens hing über seinem Arm.
    Nur Zeitungen. Ein Zeitungsjunge.
    »Madame?«, fragte er und streckte grinsend die leere Hand aus.
    Als er fortlief, ließ er die Münze in seiner Hose verschwinden. Aura betrachtete die Schlagzeile der dünnen Sonderausgabe. Deutschland hatte Russland den Krieg erklärt, vor wenigen Stunden erst. In Frank-reich hatte die Mobilmachung begonnen. Nachrichten, die längst keinen mehr überraschten.
    Vor Auras Augen schwebte etwas zu Boden, etwas Weißes, aus einem der Hotelfenster. Die Haube des Zimmermädchens. Bevor sie sicher sein konnte, fuhr ein Automobil darüber hinweg. Danach war es verschwunden.
    Gillian, dachte sie verzweifelt. Und: Ich will nicht mehr allein sein.
    Doch allein wandte sie sich schließlich um, und allein lief sie die Straße hinab davon.

KAPITEL 2
    Wenn die Wüste sang, tat sie es mit der Stimme des Windes.
    Tess lauschte dem Lied, und manchmal glaubte sie, Worte zu verstehen. Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, die Mythen der Yeziden, Kurden und Araber, Legenden aus einer Zeit, als die Furcht vor den Dschinn das Land regierte.
    Sie saß im Schneidersitz auf einer Düne, obwohl man sie tausendmal gewarnt hatte, das nicht zu tun: Gib Acht, sonst kriechen Skorpione unter dein Kleid. Tess hatte dies erfreut zum Anlass genommen, die Baumwollkleider, die man ihr bei der Ankunft ausgehändigt hatte, im Schrank zu lassen. Seitdem trug sie Hosen, mochte der Professor noch so oft behaupten,
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