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Die Akte Nr. 113

Titel: Die Akte Nr. 113
Autoren: Émile Gaboriau
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übermenschliche Anstrengung ruhig zu scheinen – er
kam als Richter, als Rächer.
    Bei seinem Anblick waren Valentine und ihr Sohn mit einem
Schreckenslaut emporgefahren. Fauvel aber lachte höhnisch auf.
    »Ich komme allerdings unerwartet,« sagte er
schneidend.
    Raoul hatte sich mutig vor Frau Fauvel gestellt, um sie mit
seinem Leibe zu decken und erwartete ruhig die Kugel. Nur wollte er den
offenbar eifersüchtigen Mann aus dem Irrtum reißen
und sagte daher: »Glauben Sie mir, Onkel ...«
    »Genug der Lügen und
Schändlichkeiten,« unterbrach ihn Fauvel
zornsprühend. »Die Komödie ist zu
Ende!«
    »Ich schwöre Ihnen...«
    »Schweigen Sie, ich weiß alles. Ich
weiß, wo der Schmuck meiner Frau hingekommen ist, ich kenne
den Urheber des Diebstahls, um dessentwillen Prosper eingesperrt worden
ist!«
    Frau Fauvel war entsetzt und niedergeschmettert in die Knie
gesunken!
    Nun war der fürchterliche, der gefürchtete
Tag doch gekommen! Vergeblich hatte sie Lüge auf Lüge
gehäuft, hatte sich geopfert – nun war das
Unabwendbare hereingebrochen! Die Wahrheit kommt immer an den Tag!
    »André,« stammelte sie,
»ich beschwöre dich, verzeih!«
    Bei dem Klang dieser einst so geliebten Stimme zuckte Fauvel
zusammen.
    Die ganze Vergangenheit lebte vor ihm auf. Wie eine
Lichtgestalt war ihm Valentine von Laverberie einst erschienen, und er
hatte sich für den glücklichsten der Sterblichen
gehalten, weil sie seine Hand angenommen. Und zwanzig Jahre hatte er
glücklich an ihrer Seite gelebt, sie auf den Händen
getragen!
    »Verzeihung, Verzeihung,« stöhnte
die Unglückliche, die sich auf den Knien bis zu Fauvels
Füßen geschleppt hatte. »Vergib mir,
André, vergib!«
    »Valentine,« sagte Fauvel traurig, mit
tränenerstickter Stimme, »o Valentine, wie konntest
du mir das antun, wie konntest du nur deine Ehre aufs Spiel setzen, so
tief sinken!«
    Wieder wollte Raoul den unheilvollen Irrtum, in dem sich
Fauvel befand, aufklären und begann: »Erlauben Sie
mir, Herr Fauvel ...«
    Aber der Ton dieser Stimme genügte, um in dem
beleidigten Gatten jede mildere Regung sofort zu ersticken.
    »Schweigen Sie,« rief er wild. Und nach
einer Pause fügte er hinzu: »Ich bin gekommen, um
euch zu überraschen und zu töten – allein,
ich habe mir zu viel zugetraut – ich bin kein
Mörder. Nehmen Sie den Revolver, der dort am Kamin liegt, und
verteidigen Sie sich.«
    Raoul ergriff die Waffe.
    »Barmherziger Himmel,« schrie Frau Fauvel
und streckte flehend ihre gerungenen Hände gegen den Gatten
empor, »töte ihn nicht, André, ich will dir
alles bekennen.«
    Das war für Fauvel zu viel! Das ehebrecherische Weib
wagte es, für ihren Geliebten um Gnade zu flehen! Das
Maß war übervoll!
    »Zurück!« donnerte er und hob die
Waffe.
    Valentine aber sprang auf, breitete die Arme
schützend um Raoul und rief: »Töte mich,
denn ich bin die allein Schuldige!«
    Da konnte sich Fauvel, wahnsinnig vor Eifersucht, nicht
länger bezwingen und drückte los – aber der
Schuß versagte.
    Er gab ein zweites, ein drittes Mal Feuer – und er
wollte eben ein viertes Mal losdrücken, als die Tür
aufgerissen wurde, ein Mann hereinstürzte und ihm den Revolver
entriß.
    Verduret war's, den Cavaillon erst nach langem Suchen
gefunden, und der nun von den schlimmsten Befürchtungen
getrieben, nach Bersinet gejagt war.
    »Gott sei Dank,« rief er, als er Frau Fauvel
noch aufrecht stehen sah, »sie ist nicht getroffen.«
    Er wußte nicht, daß Nina so klug und
vorsichtig gewesen, die Kugeln aus dem Revolver zu entfernen.
    Unterdessen hatte sich Fauvel von der ersten
Überraschung erholt.
    »Lassen Sie mich,« rief er dem Fremden zu,
»ich übe mein Recht aus.«
    »Der anonyme Brief hat Sie getäuscht, danken
Sie Gott, daß der Zufall Ihnen ein furchtbares Verbrechen
erspart hat.«
    »Da kann von keiner Täuschung die Rede
sein,« versetzte Fauvel finster, »sie selbst bekennt
sich schuldig.«
    »Aber in anderem Sinne, als Sie meinen. Für
wen halten Sie den jungen Mann?«
    »Er ist ihr Geliebter!«
    »Nein, er ist nicht ihr Geliebter, sondern
– ihr Sohn!«
    Die plötzliche Dazwischenkunft dieses so wohl
unterrichteten Unbekannten verblüffte und entsetzte Raoul
mehr, als Fauvels Drohungen, dennoch besaß er genug
Geistesgegenwart, um die Aussage des Fremden zu bestätigen.
    »Das ist wahr,« sagte er.
    Der Bankier blickte wie geistesverwirrt von Verduret zu Raoul
und dann auf
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