Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Akte Nr. 113

Titel: Die Akte Nr. 113
Autoren: Émile Gaboriau
Vom Netzwerk:
verhalten.«
    »Nun – und?«
    »Es war abends,« berichtete Prosper
kleinlaut, »ich hatte von der Zimmerluft Kopfschmerzen und
ging ein wenig spazieren, unseligerweise bekam ich Lust, in ein
Kaffeehaus einzutreten – da las ich in der Zeitung die
Unglücksnachricht und habe den Kopf verloren ...«
    »Hatte ich Sie nicht gebeten, Vertrauen zu mir zu
haben?«
    »Ja, aber Sie waren fort, ich fürchtete, die
Ereignisse würden Sie überraschen ...«
    »Nur Dummköpfe lassen sich von
Unvorhergesehenem überraschen und aus der Fassung
bringen,« versetzte Verduret kurz. »Sie haben mir mit
Ihrer – Voreiligkeit einen schlechten Dienst erwiesen und
sich selber auch, aber da der Fehler nun einmal geschehen ist,
müssen wir wenigstens trachten, die Folgen so gut als
möglich abzuwenden. – Wann haben Sie den Brief
aufgegeben?«
    »Gestern abend – ach, ich bereute es
sogleich.«
    » Vorbedacht wäre gescheiter gewesen als nachträgliche Reue.
– Fauvel dürfte also den Brief mit der heutigen
Morgenpost erhalten haben. Wo ist er um diese Zeit?«
    »In seinem Arbeitszimmer.«
    »Also war er allein. – Können Sie
sich an den genauen Wortlaut Ihres sauberen Schreibens
erinnern?«
    »Ja, ich schrieb: Sie haben Ihren Kassierer dem
Gerichte überliefert, weil Sie ihn für unredlich
hielten. Aber wenn Sie meinen, daß er Ihre Kasse beraubte,
glauben Sie, daß auch er es war, der die Diamanten Ihrer Frau
ins Leihhaus getragen? An Ihrer Stelle würde ich die Sache
nicht wieder bei Gericht anzeigen, sondern vorher ein wenig meine Frau
überwachen, auch würde ich, aufrichtig gestanden, dem
fremden, plötzlich dahergeschneiten Neffen etwas
mißtrauen. Was aber den ehrenwerten Herrn Marquis von Clameran
betrifft, so täten Sie vielleicht gut, ehe Sie den
Heiratskontrakt Ihrer Nichte unterzeichnet, sich auf der Polizei nach
ihm zu erkundigen. Ein Freund. – Dies ist der genaue
Wortlaut.«
    »Ein richtiger anonymer Brief – ganz
niederträchtig!« rief Verduret.
»Merkwürdig! Sie betreiben ja die Sache nicht
berufsmäßig! ... Die Wirkung des Briefes muß
eine schreckliche gewesen sein ... Ist Fauvel heftig?«
    »Furchtbar heftig und jähzornig.«
    »Dann ist die Sache vielleicht wieder gut zu
machen.«
    »Sie meinen? Ich fürchte im Gegenteil, eben
darum ...«
    »Ich meine, jeder gebildete Mensch von hitzigem
Temperament kennt sich selbst und trachtet der ersten Aufregung nicht
nachzugeben. Wenn sich aber Fauvel nicht beherrschen konnte, wenn er
sofort zu seiner Frau gestürzt ist und gefragt hat: wo sind
deine Diamanten – dann ist alles verloren ...«
    »Wieso?«
    »Weil, wenn es zwischen dem Ehepaar Fauvel zur
Aussprache kommt, uns unsere beiden Galgenvögel davonfliegen
und das wäre aus mehrfachen Gründen fatal.
Übrigens muß ich noch einiges in Erfahrung bringen
– wir wissen noch nichts über Raouls Vorleben. Ich
habe in London Verbindungen – in den nächsten Tagen
erwarte ich Antwort auf meine Fragen. Aber jetzt, lieber Prosper,
lassen wir das Plaudern, es gibt noch mancherlei zu tun.«
    Verduret ging an die Klingel und läutete, Frau
Alexandrine erschien in eigener Person.
    »Ich muß sobald als möglich Ihren
– will sagen Josef Dubois und Fräulein Anna
sprechen. Und jetzt möchte ich mich ein wenig ausruhen, ich
habe seit drei Nächten nicht geschlafen. Sie erlauben
wohl,« sagte er zu Prosper und warf sich ohne
Umstände angekleidet auf dessen Bett. »Wenn jemand
kommt, wecken Sie mich.«
    Fünf Minuten später schlief er fest.
    Prosper, der ebenfalls die ganze Nacht kein Auge geschlossen,
warf sich in einen Lehnstuhl. Aber er fand keinen Schlaf, zu lebhaft
beschäftigte ihn der Gedanke, wer nur sein Retter sein mochte?
    Verduret hatte kaum ein Stündchen geschlafen, als es
an der Tür pochte und Josef, der Bediente Clamerans eintrat.
    »Endlich sind Sie wieder da, Meister,« rief
er, »es ist, glaub' ich, die höchste Zeit; wenn Sie
die Vögel fangen wollen, müssen Sie sich beeilen,
denn ich glaube, die Kerle haben nicht übel Lust
fortzufliegen.«
    »Zum Teufel! Da hast du wohl eine Unvorsichtigkeit
begangen?«
    »Sie sind seit dem Balle schon etwas unruhig, der
Bajazzo will ihnen nicht aus dem Kopf. Aber gestern hat sich etwas
ereignet ...«
    »Was? Mach rasch.«
    »Gestern kommt es meinem Herrn Marquis in den Sinn,
seine Papiere im Schreibtisch in Ordnung zu bringen. Plötzlich
wird er aschfahl und stößt einen Fluch aus ...
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher