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Die Äbtissin

Die Äbtissin

Titel: Die Äbtissin
Autoren: Toti Lezea
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fügte in vertraulichem Ton hinzu: »Sie ist tot.«
    Traurig und entmutigt verließ María den Kerker. Doña Gracia und sie gingen langsam zurück und genossen die warmen Mittagsstunden. Ohne etwas auf Marías Schweigen zu geben, schwätzte ihre Begleiterin ohne Unterlass und erzählte ihr von Ereignissen aus Madrigalejo, die der Äbtissin völlig gleichgültig waren. Doch dann sagte die geschwätzige Frau etwas, das María aufhorchen ließ.
    »Einmal ist sogar ein Verbrechen in unserem Dorf passiert…«
    »Ein Verbrechen?«
    »Ja. Ich war damals noch ein Kind, aber ich kenne die ganze Geschichte, weil die alten Leute sich alle noch daran erinnern und gelegentlich darüber sprechen. Eines Nachts kam ein Trupp bewaffneter Männer und quartierte sich in einem verlassenen Haus ein. Es waren rohe, gewalttätige Soldaten. Ihr Johlen und ihre Flüche waren im ganzen Dorf zu hören und die Leute versperrten ängstlich ihre Türen, die sonst immer offen stehen. Sie tranken bis zum Morgengrauen, erst dann wurde es still. Trotzdem wagte sich niemand aus dem Haus, aus Angst, einem von ihnen zu begegnen. Später am Vormittag war erneut lauter Tumult aus dem Haus zu vernehmen, offensichtlich stritten sie sich…«
    Doña Gracia warf María einen Blick zu, um sich in dem Interesse zu sonnen, das sie geweckt hatte.
    »Fahrt fort, ich bitte Euch«, bat diese.
    »Nach einigen Minuten kam einer der Männer heraus und ging zum Haus des Dorfschulzes. Er blieb eine Weile dort, dann gingen die beiden zu dem leer stehenden Haus. Offenbar hatte einer der Soldaten eine Frau erwürgt.«
    »Eine Frau aus Madrigalejo?«, fragte María, obwohl sie die Antwort im Voraus wusste.
    »Aber nein!«, rief Doña Gracia beleidigt. »Sie war nicht von hier. Es war ein junges Mädchen, das mit ihnen gekommen war. Eine Hure, nehme ich an.«
    Hätte sich ein Dolch in Marías Fleisch gebohrt, der Schmerz hätte nicht schlimmer sein können als der, den sie in diesem Augenblick empfand.
    »Was geschah dann?«
    »Offenbar waren die Männer Soldaten der Königin und ihr Anführer ein Vertrauter der Monarchin. Man erfuhr nicht genau, was vorgefallen war, und niemand hatte ein Interesse daran, es herauszufinden. Weder der Dorfschulze noch der Pfarrer verloren ein Wort darüber – falls sie etwas wussten. Es war besser, sich nicht in Angelegenheiten einzumischen, die einen nichts angingen.«
    »Aber was geschah danach?«, María war kurz davor, die Geduld zu verlieren. »Was geschah mit der Leiche?«
    »Ihr meint das unglückliche Mädchen? Sie wurde natürlich beerdigt.«
    »Wo?«
    Doña Gracia sah sie an, erstaunt, wie viel der Äbtissin an diesem Detail lag. Was konnte es eine Nonne interessieren, wo vor so langer Zeit eine unbekannte Tote begraben worden war?
    »Im Kloster«, antwortete sie.
    »In welchem Kloster?«, drängte María.
    »Na, im Büßerkloster natürlich. Ein anderes gab es nicht. Man konnte sie ja nicht in der Kirche neben den Familien aus dem Ort beisetzen, weil sie eine Fremde war. Die Soldaten brachten die Leiche zum Kloster, und wie man sich erzählte, bezahlten sie die Nonnen sehr gut, damit sie ihr ein anständiges Grab gaben. Und da liegt sie noch heute.«
    María ließ Doña Gracia mitten auf dem Weg stehen, machte kehrt und ging raschen Schrittes zum Kloster zurück. Sie antwortete nicht auf die Fragen des Dorfschulzen, in dessen Gesicht die Überraschung geschrieben stand, sie wieder zu sehen, und ging zu der verfallenen Kirche, gefolgt von dem Mann, der herauszufinden versuchte, weshalb sie zurückgekommen war, und sie unablässig mit Fragen überschüttete. Sie ging geradewegs zu der kleinen Kapelle, in der sie mit Aldonza gewesen war, und säuberte die Grabplatte mit ihrem Habit. Sie spürte, wie ihre Knie nachgaben, und musste sich an einer der zerbrochenen Kanten festhalten. In den Stein waren klar und deutlich ein Name und ein Datum eingemeißelt: Toda V. X. MCDLXXXIV. Endlich hatte sie ihre Mutter gefunden, nach der sie ein Leben lang gesucht hatte.
    Zurück in Madrigal schrieb sie Inés und Gonzalo von ihrer Entdeckung und bat sie, das Notwendige zu veranlassen, um die Gebeine ihrer Mutter in die Familiengruft in San Antón zu überführen. Toda de Larrea würde nach Hause zurückkehren und neben den Ihren in Bilbao ruhen, umgeben von grünen Bergen und gewiegt vom Rauschen des Nervión, das sie so sehr vermisst haben musste.
    Sie bat die beiden außerdem, Aldonza von diesem grauenvollen Ort wegzubringen. Sie war sich sicher,
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