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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte
Autoren: Kate Mosse
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die Mehrheit des Publikums die Störung geflissentlich. Doch dann wurde sie aufdringlicher, denn auch auf dem unteren Rang und im Parkett wurden Stimmen laut.
    Léonie konnte nicht genau verstehen, was die Protestler riefen.
    Sie hielt den Blick entschlossen auf den Orchestergraben gerichtet, bemüht, jedes neuerliche Zischen oder Tuscheln zu ignorieren. Aber je länger die Ouvertüre dauerte, desto mehr breitete sich die Unruhe von oben nach unten aus, entlang der Sitzreihen, verstohlen und bösartig. Unfähig, noch länger den Mund zu halten, lehnte sich Léonie zu ihrer Nachbarin hinüber.
    »Wer sind die Leute?«, flüsterte sie.
    Die Dame war über die Unterbrechung ungehalten, antwortete aber dennoch.
    »Sie nennen sich die
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«, erwiderte sie hinter ihrem Fächer. »Sie sind gegen die Aufführung von Werken nichtfranzösischer Komponisten. Sehen sich als musikalische Patrioten. Im Prinzip bringe ich ihnen eine gewisse Sympathie entgegen, aber das hier ist ungehörig.«
    Léonie nickte dankend und setzte sich wieder gerade hin. Die sachliche Art der Frau beruhigte sie etwas, obwohl die Störmanöver an Heftigkeit deutlich zunahmen.
    Die Schlusstakte der Ouvertüre hingen noch in der Luft, da ging der Protest erst richtig los. Als der Vorhang sich hob und ein Chor in Sicht kam, der deutsche Ritter des zehnten Jahrhunderts am Ufer eines alten Flusses in Antwerpen darstellte, brach im ersten Rang lautstarker Tumult aus. Eine Gruppe von mindestens acht oder neun Männern sprang auf und begann zu pfeifen, zu buhen und langsam zu klatschen. Eine Welle der Missbilligung lief durch die Reihen im Parkett und in den oberen Rängen und wurde von weiteren Protestausbrüchen beantwortet. Dann verfielen die Aufrührer in einen Sprechchor, doch Léonie verstand zunächst nicht, was sie riefen. Ein lärmendes Crescendo, und auf einmal unmissverständlich:
    »Boche! Boche!«
    Der Protest hatte die Ohren der Sänger erreicht. Léonie sah Blicke zwischen Chor und Hauptdarstellern hin und her huschen, Sorge und Ratlosigkeit überdeutlich in jedem Gesicht.
    »Boche! Boche! Boche!«
    Léonie wollte zwar nicht, dass die Vorstellung unterbrochen wurde, gestand sich aber gleichzeitig ein, wie aufregend das alles für sie war. Von solchen Ereignissen, wie sie es jetzt hautnah erlebte, erfuhr sie sonst nur aus Anatoles
Figaro.
    Da habe ich Anatole richtig was zu erzählen.
    Aber der Charakter des Protestes veränderte sich.
    Das Ensemble, blass und ängstlich unter der dicken Theaterschminke, sang unbeirrt weiter, so lange, bis das erste Wurfgeschoss auf die Bühne flog. Eine Flasche, die nur knapp den Basssänger in der Rolle des König Heinrich verfehlte.
    Einen Moment lang schien es, als habe das Orchester aufgehört zu spielen, so tief und unheilschwanger war die Stille. Das Publikum hielt gleichsam kollektiv die Luft an, während die Flasche wie von Geisterhand verlangsamt kreiselte, das grellweiße Rampenlicht einfing und zu flirrenden grünen Strahlen brach. Dann schlug sie mit einem dumpfen Laut gegen die Kulissenleinwand, fiel herab und rollte zurück in den Graben.
    Der reale Welt war blitzartig wieder da. Chaos brach aus, auf der Bühne und davor. Der Lärm wurde infernalisch. Dann flog ein zweites Wurfgeschoss über die Köpfe des fassungslosen Publikums hinweg und zerbarst auf der Bühne. Eine Frau in der ersten Reihe schrie auf und hielt sich Mund und Nase zu, als ein widerwärtiger Gestank nach Blut und verfaultem Gemüse und Gosse bis ins Parkett drang.
    »Boche! Boche! Boche!«
    Das Lächeln auf Léonies Gesicht erstarb, wich einem Ausdruck von Besorgnis. Sie hatte Schmetterlinge im Bauch. Das hier war kein Abenteuer mehr, sondern bedrohlich und furchterregend. Ihr wurde schlecht.
    Plötzlich sprang das Quartett zu ihrer Rechten in einem Satz auf und begann, vollkommen gleichzeitig und zunächst ganz langsam zu klatschen, wobei sie Tierlaute von sich gaben, Schweine und Kühe und Ziegen nachahmten. Ihre Gesichter waren brutal und bösartig, als sie ihr antipreußisches Leitmotiv skandierten, das nun in jeder Ecke des Saales aufgegriffen wurde.
    »In Gottes Namen, Mann, setzen Sie sich hin!«
    Ein vollbärtiger und bebrillter Herr mit dem blässlichen Teint eines Menschen, der seine Zeit mit Tintenfass, Wachs und Dokumenten verbrachte, klopfte einem der Protestler mit seinem Programmheft auf den Rücken.
    »Das ist hier weder der rechte Zeitpunkt noch der rechte Ort. Nehmen Sie Platz!«
    »Ja wirklich«, pflichtete
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