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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte
Autoren: Kate Mosse
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die Achseln. Ihre Augen blitzten vor Zorn und dann vor Belustigung.
    Léonie konnte nicht länger warten. Wenn sie Monsieur Wagners
Lohengrin
hören wollte, dann musste sie ihr Herz in beide Hände nehmen und allein hineingehen.
    Konnte sie das?
    Sie hatte zwar keinen Begleiter, aber zum Glück eine eigene Eintrittskarte.
    Aber traute sie sich das?
    Sie überlegte. Es war die Pariser Premiere. Wieso sollte sie dieses Erlebnis versäumen, nur weil Anatole unpünktlich war?
    Im Innern des Opernhauses glitzerten die prächtigen Kristallleuchter. Alles war Licht und Eleganz, eine Gelegenheit, die man nicht verpassen durfte.
    Léonie traf ihre Entscheidung. Sie lief die Stufen hinauf, durch die Glastür und hinein in die Menge.
     
    Das Klingelzeichen ertönte. Nur noch zwei Minuten, bis sich der Vorhang hob.
    Mit fliegenden Röcken und blitzenden Seidenstrümpfen eilte Léonie über den Marmor im Grand Foyer, wobei sie gleichermaßen Beifall und Bewunderung erntete. Mit ihren siebzehn Jahren stand Léonie kurz davor, sich in eine große Schönheit zu verwandeln, nicht länger Kind, aber noch immer mit Anklängen an das Mädchen, das sie einmal gewesen war. Sie hatte das Glück, die derzeit beliebten Gesichtszüge und die nostalgischen Farben zu besitzen, die von Monsieur Moreau und seinen befreundeten Präraffaeliten so geschätzt wurden.
    Aber ihr Aussehen täuschte. Léonie war eher willensstark als gefügig, eher kühn als bescheiden, eine junge Frau mit dem Feuer ihrer Zeit, keine sittsame mittelalterliche Maid. Ja, Anatole neckte sie sogar damit, dass sie zwar wie das Porträt von Rossettis
La Damoiselle Élue
aussehe, aber in Wahrheit deren Gegenbild war. Ihre Doppelgängerin, aber nicht sie. Von den vier Elementen war Léonie Feuer, nicht Wasser, Erde nicht Luft.
    Jetzt waren ihre Alabasterwangen gerötet. Dicke kupferfarbene Haarlocken hatten sich aus den Kämmen gelöst und fielen über die nackten Schultern. Ihre betörenden grünen Augen, umrahmt von langen braunen Wimpern, blitzten vor Zorn und Verwegenheit.
    Er hat mir versprochen, nicht zu spät zu kommen.
    Während Léonie über den Marmorboden eilte, hielt sie mit der einen Hand ihre Abendtasche, wie einen Schild, die Röcke ihres grünen Seidensatinkleides mit der anderen, ohne die missbilligenden Blicke von älteren Damen und Witwen zu beachten. Die unechten Perlen und Silberpailletten am Saum ihres Kleides klickerten gegen die Marmorstufen der Treppe, als sie zwischen rosafarbenen Marmorsäulen, vergoldeten Statuen und Wandfriesen hindurch auf die geschwungene Grand Escalier zulief. Eingezwängt in ihr Korsett, atmete sie keuchend, und ihr Herz pochte wie ein zu schnell eingestelltes Metronom.
    Dennoch verlangsamte Léonie ihren Schritt nicht. Weiter vorne sah sie, dass die Lakaien Anstalten machten, die Türen zum Grande Salle zu schließen. Mit einer letzten Kraftanstrengung erreichte sie den Eingang.
    »Voilà«,
sagte sie und hielt dem Saaldiener ihre Eintrittskarte hin.
»Mon frère va arriver …«
    Er trat beiseite und ließ sie hinein.
    Nach den geräuschvollen und schallenden Marmorhallen des Grand Foyer war der Saal ungewöhnlich still. Leises Gemurmel, Begrüßungen, Erkundigungen nach Gesundheit und Familie, alles halb verschluckt von den dicken Teppichen und den Reihen roter Samtsessel.
    Die üblichen Notenläufe der Holz- und Blechbläser, Tonleitern und Arpeggien und Auszüge aus der Oper, immer lauter, drangen aus dem Orchestergraben wie herbstliche Rauchfahnen.
    Ich hab’s geschafft.
    Léonie nahm Haltung an und strich ihr Kleid glatt. Es war eine Neuanschaffung, erst heute Nachmittag von La Samaritaine geliefert und noch ganz steif. Sie zog die langen grünen Handschuhe bis über die Ellbogen, so dass nur ein dünner Streifen nackter Haut sichtbar war, und ging dann durchs Parkett Richtung Bühne.
    Ihre Plätze waren in der ersten Reihe, zwei der besten im ganzen Haus, was sie Anatoles Freund und ihrem Nachbarn zu verdanken hatten, dem Komponisten Achille Debussy. Auf dem Weg nach vorne passierte sie links und rechts Reihen von schwarzen Zylindern, gefiederten Damenhüten und wedelnden schmuckbesetzten Fächern. Rot und lila verfärbte cholerische Gesichter, dick gepuderte Witwen mit akkuratem Weißhaar. Sie erwiderte jeden einzelnen Blick mit einem herzlichen Lächeln und einer leichten Neigung des Kopfes.
    Es liegt eine seltsame Anspannung in der Luft.
    Léonies Blick wurde wachsamer. Je weiter sie in den Grande Salle hineinging,
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