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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte
Autoren: Kate Mosse
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vergessenen Programmheften und gefiederten Damenhüten, Lorgnetten und Operngläser zersplitterten unter Schuhsohlen wie vertrocknete Knochen in einem alten Grabmal.
    Léonie konnte nichts sehen außer Ellbogen und unbedeckte Hinterköpfe, aber sie bewegte sich vorwärts, quälend langsam, Zentimeter um Zentimeter, so dass sie allmählich ein wenig Distanz zwischen sich und die schlimmsten Kämpfe brachte.
    Dann stolperte neben ihr eine ältere Dame und fiel.
    Sie werden sie tottrampeln.
    Léonie streckte rasch die Hand aus und bekam den Ellbogen der Frau zu fassen. Unter dem gestärkten Stoff fühlte sie einen spindeldürren Arm.
    »Ich wollte doch nur die Musik hören«, weinte die Frau. »Deutsch, französisch, mir ist das gleichgültig. Dass wir so etwas noch erleben müssen. Dass es wieder so weit kommt.«
    Léonie stolperte vorwärts, trug das volle Gewicht der betagten Dame, während sie Richtung Ausgang taumelte. Die Last schien mit jedem Schritt schwerer zu werden. Die Frau verlor allmählich das Bewusstsein.
    »Wir haben’s gleich geschafft«, rief Léonie. »Bitte, halten Sie durch, bitte«, damit die alte Frau bloß nicht zusammenbrach. »Wir sind fast an der Tür. Fast in Sicherheit.«
    Endlich entdeckte sie die vertraute Livree eines Operndieners.
    »Mais aidez-moi, bon Dieu«,
rief sie.
»Par ici. Vite!«
    Der Saaldiener gehorchte sofort. Wortlos erleichterte er Léonie von ihrer Bürde, hob die alte Dame mit Schwung hoch und trug sie ins Grand Foyer.
    Léonie knickten die Knie vor Erschöpfung ein, aber sie zwang sich weiter. Nur noch ein paar Schritte.
    Plötzlich packte jemand sie am Handgelenk.
    »Nein!«, schrie sie. »Nein!«
    Sie würde sich nicht hier festhalten lassen, mit dem Feuer und dem Mob und den Barrikaden. Léonie schlug blind um sich, traf aber nur Luft.
    »Fassen Sie mich nicht an!«, kreischte sie. »Loslassen!«

Kapitel 3
    ∞
    L éonie, c’est moi. Léonie!«
    Eine Männerstimme, vertraut und beruhigend. Und ein Duft nach Sandelholzpomade und türkischem Tabak.
    Anatole? Hier?
    Und jetzt umfassten starke Hände ihre Taille und hoben sie hoch über das Gedränge.
    Léonie öffnete die Augen. »Anatole!«, schrie sie und schlang die Arme um seinen Hals. »Wo warst du denn? Wie konntest du?« Ihre Umarmung wurde zum Angriff, als sie mit wütenden Fäusten auf seine Brust eintrommelte. »Ich habe gewartet und gewartet, aber du bist nicht gekommen. Wie konntest du mich hier alleine …«
    »Ich weiß«, erwiderte er rasch. »Und du hast alles Recht der Welt, mir Vorwürfe zu machen, aber nicht jetzt!« Ihr Zorn legte sich so schnell, wie er aufgebrandet war. Plötzlich erschöpft, ließ sie den Kopf auf die Brust ihres großen Bruders sinken.
    »Ich habe gesehen …«
    »Ich weiß,
petite
«, sagte er sanft und strich mit der Hand über ihr zerzaustes Haar, »aber die Soldaten sind schon draußen. Wir müssen hier weg, sonst geraten wir noch zwischen die Fronten.«
    »So ein Hass in ihren Gesichtern, Anatole. Sie haben alles zerstört. Hast du das gesehen? Hast du das gesehen?«
    Léonie spürte, wie Hysterie in ihr aufstieg, vom Magen in die Kehle, in den Mund sprudelte. »Mit bloßen Händen haben sie …«
    »Das kannst du mir alles später erzählen«, sagte er schneidend, »aber jetzt müssen wir hier raus.
Vas-y.
«
    Sofort kam Léonie wieder zur Besinnung. Sie holte tief Luft.
    »Braves Mädchen«, sagte er, als er sah, wie die Klarheit in ihre Augen zurückkehrte. »Jetzt schnell!«
     
    Anatole gelang es dank seiner Größe und Kraft, eine Schneise durch die Masse der Leiber zu bahnen, die aus dem Saal drängten.
    Sie traten durch die Samtvorhänge ins Chaos. Hand in Hand liefen sie am zweiten Rang entlang zur Grand Escalier. Der mit Champagnerflaschen, umgekippten Eiskübeln und Programmheften übersäte Marmorboden war wie eine Eisbahn unter ihren Füßen. Sie schlitterten weiter, erreichten die Glastüren, ohne auch nur einmal richtig auszugleiten, und waren schließlich auf dem Place de l’Opéra.
    Sogleich ertönte hinter ihnen das Geräusch von splitterndem Glas.
    »Léonie, hier lang!«
    Wenn sie die Szenen im Grande Salle schon für unerträglich gehalten hatte, so war es draußen auf den Straßen noch schlimmer. Die aufrührerischen Nationalisten, die
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hatten auch die Treppe zum Palais Garnier besetzt. Mit Stöcken und Flaschen und Messern bewaffnet, standen sie in drei Reihen, warteten und warteten, sangen. Unten auf dem Place de l’Opéra knieten
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