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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte
Autoren: Kate Mosse
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sein Begleiter bei. »Setzen Sie sich.«
    Der Protestler wandte sich um und schlug dem Mann fest mit seinem Stock auf die Finger. Léonie schnappte nach Luft. Der Geschlagene, überrumpelt von der Schnelligkeit und Brutalität des Angriffs, heulte auf und ließ das Programmheft fallen. Als Blut aus der Wunde sickerte, sprang sein Begleiter vor. Er hatte gesehen, dass im Knauf des Stocks ein Metallstift steckte, und wollte dem Protestler die Waffe entreißen, doch grobe Hände stießen ihn zurück, und er stürzte.
    Der Dirigent versuchte, das Orchester im Takt zu halten, aber die Musiker warfen verstörte Blicke um sich, und das Tempo wurde abgehackt und ungleichmäßig, sowohl zu schnell als auch zu langsam. Hinter der Bühne war eine Entscheidung getroffen worden. Schwarzgekleidete Bühnenarbeiter, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, kamen plötzlich aus den Seitenkulissen geschwärmt und drängten die Sänger aus der unmittelbaren Schusslinie.
    Die Opernleitung gab Anweisung, den Vorhang fallen zu lassen. Die Gewichte schepperten und dröhnten gefährlich, als sie zu schnell nach oben schossen. Der schwere Stoff sackte abwärts, verfing sich dann an einem Kulissenteil und blieb hängen.
    Das Gebrüll wurde heftiger.
    Der Exodus begann zuerst in den Privatlogen. Die Bourgeoisie zog sich hastig in einem Wirbel von Federn und Gold und Seide zurück. Bei ihrem Anblick breitete sich der Wunsch nach Rückzug in die oberen Ränge aus, wo sich viele der nationalistischen Protestler befanden, dann in die unteren Ränge und ins Parkett. Auch die Reihen hinter Léonie leerten sich eine nach der anderen in die Gänge. Von überall im Grande Salle hörte sie, wie Sitze hochklappten. An den Ausgängen ertönte das Rasseln von Messingringen auf ihren Stangen, als die schweren Samtvorhänge jäh aufgerissen wurden.
    Aber die Protestler hatten ihr Ziel, die Aufführung zu stoppen, noch immer nicht ganz erreicht. Weitere Wurfgeschosse landeten auf der Bühne. Flaschen, Steine und Ziegel, faules Obst. Das Orchester verließ den Graben, floh mit den kostbaren Noten, Bögen und Instrumentenkästen, drängte sich zwischen den hinderlichen Stühlen und Pulten hindurch, um unter der Bühne zu verschwinden.
    Endlich erschien der Opernleiter durch einen Spalt im Vorhang auf der Bühne und bat um Ruhe. Er schwitzte und betupfte sich das Gesicht mit einem grauen Taschentuch.
    »Mesdames, messieurs, s’il vous plaît. S’il vou plaît!«
    Er war ein massiger Mann, doch weder seine Stimme noch sein Auftreten zeugten von Autorität. Léonie sah, wie hilflos seine Augen blickten, während er mit den Armen wedelte und versuchte, dem wachsenden Chaos irgendeine Art von Ordnung aufzuzwingen.
    Es war zu wenig, zu spät.
    Wieder flog ein Geschoss durch die Luft, aber diesmal war es keine Flasche oder irgendein käuflich erworbener Gegenstand, sondern ein Stück Holz, in dem Nägel steckten. Es traf den Opernleiter über dem Auge. Er taumelte zurück, presste die Hand aufs Gesicht. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, und er kippte zur Seite, sackte wie eine Stoffpuppe auf den Bühnenboden.
    Das brachte das Fass zum Überlaufen, und Léonie verlor endlich den Mut.
    Ich muss hier raus.
    Entsetzt, schon fast panisch, sah sie sich verzweifelt im Saal um, aber sie saß in der Falle, eingezwängt zwischen dem Mob hinter und neben ihr und der Gewalt vor ihr. Léonie umklammerte die Rückenlehne des Sitzes, weil sie meinte, entkommen zu können, wenn sie über die Reihen hinwegkletterte, doch als sie ein Bein hinüberschwingen wollte, merkte sie, dass sich der perlenbesetzte Saum ihres Kleides an den Metallbolzen unter ihrem Sitz verfangen hatte. Sie bückte sich und versuchte mit immer hektischeren Fingern, zu ziehen, sich loszureißen.
    Jetzt gellte ein neuer Protestschrei durch den Saal.
    »A bas! A bas!«
    Sie sah hoch.
    Was denn jetzt?
Der Schrei wurde von allen Seiten aufgegriffen.
    »A bas. A l’attaque!«
    Wie Kreuzritter bei der Belagerung einer Burg stürmten die Aufrührer Stöcke und Knüppel schwenkend nach vorne. Hier und da blitzte eine Klinge auf. Ein Schauder des Entsetzens durchlief Léonie. Sie begriff, dass der Mob die Bühne stürmen wollte und sie ihm genau im Weg war.
    Das bisschen, was von der Maske der Pariser Gesellschaft noch übrig geblieben war, bekam überall im Saal Risse, splitterte und zersprang. Hysterie erfasste alle, die noch festsaßen. Anwälte und Journalisten, Maler und Gelehrte, Bankiers und
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