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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte
Autoren: Kate Mosse
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desto deutlicher wurde, dass irgendetwas nicht stimmte. Misstrauen spiegelte sich auf den Gesichtern, etwas brodelte dicht unter der Oberfläche, Unruhe lag in der Luft.
    Sie spürte ein Prickeln im Nacken. Das Publikum war auf der Hut. Sie sah es in den verstohlenen Blicken und argwöhnischen Mienen.
    Mach dich nicht lächerlich.
    Léonie erinnerte sich schwach an einen Zeitungsartikel, den Anatole beim Abendessen vorgelesen hatte, über Proteste gegen die Aufführung von Werken eines preußischen Künstlers in Paris. Aber das hier war das Palais Garnier, keine düstere Gasse in Clichy oder Montmartre.
    Was soll denn in der Oper schon passieren?
    Léonie schob sich durch den Wald aus Knien und Abendkleidern in ihrer Reihe und setzte sich mit einem Gefühl der Erleichterung auf ihren Platz. Sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, und schielte dann zu ihren Nachbarn hinüber. Links von ihr saß eine mit Schmuck behängte Dame neben ihrem deutlich älteren Mann, dessen wässrige Augen von buschigen weißen Brauen fast verdeckt wurden. Fleckige Hände lagen, eine über der anderen, auf dem Knauf eines Gehstocks mit Silberspitze und einem Band mit Inschrift um den Hals. Rechts von ihr bildete Anatoles leerer Platz wie ein Graben eine Barriere zu vier finsteren bärtigen Männern in mittlerem Alter, die missmutig dreinblickten, allesamt die Hände auf langweilige Gehstöcke aus Buchsbaum gestützt. Die Art, wie sie stumm dasaßen und mit einem Ausdruck großer Konzentration geradeaus blickten, hatte etwas Beunruhigendes.
    Es schoss Léonie durch den Kopf, wie seltsam es doch war, dass sie alle Lederhandschuhe trugen, und dass ihnen unangenehm heiß sein musste. Dann wandte einer den Kopf und starrte sie an. Léonie errötete, richtete den Blick nach vorn und bewunderte lieber den herrlichen Trompe-l’œil-Vorhang, der in karmesinroten und goldenen Falten vom Proszeniumsbogen bis hinunter zum Holzboden der Bühne fiel.
    Vielleicht hat er sich nicht verspätet. Und wenn ihm etwas zugestoßen ist?
    Léonie schüttelte den Kopf über diesen neuen und unliebsamen Gedanken.
    Sie zog ihren Fächer aus der Tasche und klappte ihn mit leichtem Schwung auf. So gern sie auch Entschuldigungen für ihren Bruder finden wollte, es lag wahrscheinlich eher an seiner mangelnden Zeiteinteilung.
    Wie so oft in letzter Zeit.
    Tatsächlich war Anatole seit der tristen Beerdigung auf dem Cimetière de Montmartre sogar noch unzuverlässiger geworden. Léonie runzelte die Stirn, als sich die Erinnerung wieder einmal in ihre Gedanken drängte. Der Tag verfolgte sie. Sie durchlebte ihn wieder und wieder.
    Im März hatte sie gehofft, dass nun alles vorbei und vorüber wäre, aber sein Verhalten war nach wie vor unberechenbar. Oft verschwand er tagelang, kehrte mitten in der Nacht zurück, mied viele seiner Freunde und Bekannten und vergrub sich stattdessen in Arbeit.
    Aber heute Abend hatte er versprochen, pünktlich zu sein.
    Der
chef d’orchestre
trat ans Pult und vertrieb Léonies Gedanken. Applaus brandete durch den erwartungsvollen Saal wie eine Gewehrsalve, heftig und jäh und intensiv. Léonie klatschte mit Verve und Begeisterung, aufgrund ihrer Angespanntheit sogar noch stärker. Das Herrenquartett neben ihr rührte sich nicht, die Hände weiter reglos auf den billigen, hässlichen Gehstöcken. Sie warf ihnen einen Blick zu, fand sie unhöflich und ungehobelt und fragte sich, warum sie sich überhaupt herbemüht hatten, wo sie doch anscheinend entschlossen waren, sich nicht an der Musik zu erfreuen. Und sie wünschte, obwohl es sie ärgerte, sich eine solche Verunsicherung eingestehen zu müssen, sie würde nicht direkt neben ihnen sitzen.
    Der
chef d’orchestre
verneigte sich tief und wandte sich dann der Bühne zu.
    Der Applaus verklang. Stille senkte sich über den Grande Salle. Der Dirigent klopfte mit dem Taktstock auf das Holzpult. Die blauen Gasflämmchen in den Saallampen zischten und flackerten, erloschen dann. Die Atmosphäre lud sich verheißungsvoll auf. Aller Augen ruhten auf dem Dirigenten. Die Männer im Orchester setzten sich aufrechter und hoben ihre Bögen oder führten Instrumente an die Lippen.
    Der Dirigent hob seinen Stock. Léonie hielt den Atem an, als die Eröffnungsakkorde von Monsieur Wagners
Lohengrin
die palastartigen Räume des Palais Garnier erfüllten.
    Der Platz neben ihr blieb leer.

Kapitel 2
    ∞
    F ast augenblicklich setzten Pfiffe und Zwischenrufe auf den oberen Rängen ein. Zuerst überhörte
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