Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar
Autoren: Isabel Allende
Vom Netzwerk:
zögerte kurz und wandte sich dann an einen der Angestellten hinter der Theke. Der Mann fuchtelte mit dem Messer in eine ungefähre Richtung und brüllte über den Radau des Restaurants hinweg etwas in einem unergründlichen Kauderwelsch, von dem Alex kein Wort begriff. Eigentlich, dachte er, war es doch bloß eine Frage der Logik: Wenn er herausfand, in welcher Himmelsrichtung die Zweite Avenue lag, brauchte er nur noch die Querstraßen abzuzählen, ganz einfach; ganz so einfach erschien es ihm dann allerdings doch nicht, nachdem er festgestellt hatte, dass er sich in der Zweiundvierzigsten Straße, Ecke Achte Avenue befand und sich ausmalen konnte, wie lange er durch diese Eiseskälte würde laufen müssen. Er war dankbar für das Bergtraining: Immerhin konnte er sechs Stunden hindurch wie eine Eidechse Felswände hinaufkriechen, was sollten ihm da die paar Straßenzüge auf ebener Erde ausmachen? Er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch, duckte den Kopf zwischen die Schultern, vergrub die Hände in den Taschen und stapfte los.
    Es war nach Mitternacht und hatte zu schneien begonnen, als er in der Straße seiner Großmutter ankam. Die Gegend wirkte verwahrlost, alles war dreckig und hässlich, weit und breit sah man keinen Baum, und seit geraumer Zeit war er keiner Menschenseele mehr begegnet. Man musste ja auch reichlich verzweifelt sein, umsich mitten in der Nacht zu Fuß in den gefährlichen Straßen von Manhattan herumzutreiben. Bloß gut, dass sich kein Gangster bei diesem Wetter vor die Tür traute, sonst wäre er seine Klamotten und seinen Pass jetzt auch noch los. Das Gebäude war ein grauer Wohnblock hinter einem Sicherheitszaun zwischen vielen anderen völlig gleich aussehenden Blocks. Er drückte auf die Klingel, und sofort fragte die heisere und bärbeißige Stimme von Kate Cold, wer es wage, sie um diese nachtschlafende Zeit zu stören. Alex erriet, dass sie auf ihn gewartet hatte, obwohl sie das natürlich nie zugeben würde. Er war bis auf die Knochen durchgefroren und hatte es noch nie im Leben so nötig gehabt, dass ihn jemand in die Arme nahm, aber als sich die Fahrstuhltür endlich im elften Stock öffnete und er vor seiner Großmutter stand, war er fest entschlossen, keine Schwäche zu zeigen.
    »Hallo, Oma.« Er versuchte, sein Zähneklappern zu übertönen.
    »Ich hab dir doch gesagt, du sollst mich nicht Oma nennen!«, raunzte sie ihn an.
    »Hallo, Kate.«
    »Du kommst ganz schön spät, Alexander.«
    »Hatten wir nicht ausgemacht, dass du mich am Flughafen abholst?« Er schluckte die Tränen hinunter.
    »Überhaupt nichts hatten wir ausgemacht. Wenn du es nicht schaffst, vom Flughafen bis zu mir nach Hause zu kommen, wie willst du mich dann in den Urwald begleiten? Zieh die Jacke und die Stiefel aus«, sagte sie ohne Übergang, »ich mache dir eine heiße Schokolade und lasse dir ein Bad einlaufen, aber nimm bitte zur Kenntnis, dass ich das nur tue, damit du keine Lungenentzündung bekommst. Du musst gesund sein für die Reise. Erwarte bloß nicht, dass ich dich fortan bemuttere, kapiert?«
    »Ich habe nie erwartet, dass du mich bemutterst.«
    »Was ist mit deiner Hand passiert?« Sie sah auf den völlig durchnässten Verband.
    »Eine lange Geschichte.«
    Kate Colds kleine Wohnung war schummrig, vollgestopft und chaotisch. Zwei der Fenster – mit schmutzstarrenden Scheiben – gingen auf einen Lichthof und das dritte auf eine Ziegelmauer mit Feuerleiter. Koffer, Rucksäcke, Taschen und Kisten lagen achtlosin den Ecken herum, und auf den Tischen türmten sich Bücher, Zeitungen und Zeitschriften. Alex entdeckte einige Totenschädel, Bogen und Pfeile aus schwarzem Holz, bemalte Tongefäße mit Deckel, versteinerte Käfer und tausenderlei andere Dinge. Eine lange Schlangenhaut nahm die ganze Breite einer Wand ein. Sie musste der berühmten Pythonschlange gehört haben, die in Malaysia den Fotoapparat geschluckt hatte.
    Bis jetzt hatte Alex seine Großmutter nie in ihrem Zuhause gesehen, und er musste zugeben, dass er sie so, inmitten ihrer Sachen, viel interessanter fand. Kate Cold war vierundsechzig Jahre alt, hager und sehnig, ihre Haut vom Wetter gegerbt; ihre blauen Augen, die so viel von der Welt gesehen hatten, blickten schneidend wie Messer. Das graue Haar stutzte sie sich selbst mit der Schere, ohne in den Spiegel zu schauen, es stand nach allen Seiten ab, als hätte sie sich ihr Lebtag nicht gekämmt. Sie war stolz auf ihre Zähne, die groß waren und so stark, dass sie damit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher