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Die Abenteuer des starken Wanja

Die Abenteuer des starken Wanja

Titel: Die Abenteuer des starken Wanja
Autoren: Otfried Preußler
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die Jahre. Er spürte, wie
seine Kräfte zunahmen, wie er von Woche zu Woche, von Monat zu Monat stärker
wurde.
    Immer
dann, wenn er einen der Säcke leergegessen hatte, machte er, wie der Blinde es
ihn geheißen hatte, die Dachprobe. Flach auf dem Rücken liegend, versuchte er,
das Dach über seines Vaters Haus mit den Händen
emporzustemmen. Doch erst beim viertenmal kam es ihm so vor, als habe das
Balkenwerk um ein Winziges nachgegeben. Und als er die Dachprobe nach dem
fünften Jahr wiederholte, wehte für einen Augenblick zwischen Dach und Hauswand
die kühle Nachtluft herein. Daran merkte er, daß es mit seinen Kräften bergauf
ging von Jahr zu Jahr, und er sagte sich:
    »Alles
braucht eben seine bestimmte Zeit, daran läßt sich nichts ändern .«
    Von
alledem ahnten der Bauer Wassili Grigorewitsch, das Tantchen und Wanjas Brüder
nichts. Immer seltener kam es vor, daß Grischa und Sascha sich über Wanja
ärgerten. Sie hätten ihn eines Tages vielleicht überhaupt vergessen, wenn er
ihnen nicht dann und wann durch sein lautes Schnarchen gezeigt hätte, daß er
noch immer da war. Dann konnte es wohl geschehen, daß sie für einen Augenblick
aufhorchten und sich an ihn erinnerten.
    »Hört
nur, wie fleißig er wieder sägt, unser Bruder Wanja! Da sage noch einer, daß er
sich um die Arbeit drückt...«
    Auch
die Leute im Dorf fanden längst nichts Besonderes mehr daran, daß Wanja sein
Leben auf dem Backofen verbrachte. Aber wie es mitunter so geht: Als Grischa
und Sascha eines Abends mit den anderen Dorfburschen in der Schenke saßen und
ein paar Gläschen getrunken waren, da fingen ihre Kumpane aus heiterem Himmel
an, sie mit Wanja zu ärgern.
    Der
Wortführer war ein gewisser Aljoscha Rotschopf, ein dürrer, verschlagener
Bursche mit einem Fuchsgesicht voller Sommersprossen, der nichts lieber tat,
als andere Leute gegeneinander aufzuhetzen; dafür war er bekannt im Dorf.
    »Ihr
beiden seid ganz schön dumm !« rief er Grischa und
Sascha zu, lauthals, daß alle es hören mußten. »Ihr schuftet euch krumm und
lahm, und euer Bruder Wanja liegt faul auf dem Ofen, seit vielen Jahren, und
lacht sich eins. Warum laßt ihr euch das gefallen? Ihr solltet ihm Beine
machen, dem faulen Tropf — oder habt ihr Angst vor ihm ?«
    »Vor
Wanja?« Grischa schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser tanzten.
»Sag das noch einmal, Rotschopf !«
    Aljoscha
wich vorsichtshalber zwei Schritte zurück.
    »Was
ich gesagt habe, stimmt doch«, erwiderte er. »Nicht hier sollt ihr auf den
Tisch hauen und gewaltige Reden führen, sondern daheim bei Wanja .«
    »Ach
was«, knurrte Grischa. »Spar dir die weisen Ratschläge, Rotschopf! Wir haben
dich nicht gefragt !«
    Damit
wollte er aufstehen und hinausgehen, aber Sascha ergriff ihn beim Gürtel. Mit
dem Kinn auf den Rotschopf deutend, meinte er: »Eigentlich hat er recht. Es ist
eine Schande mit Wanja! Wir sollten ihn wirklich vom Ofen ‘runterjagen, am
besten heut noch !«
    »Oho !« rief Aljoscha. »Habt ihr’s gehört, Freunde? Das war
endlich ein Wort !«
    Von
jetzt an ließ er nicht mehr locker, bis schließlich auch Grischa weich wurde
und ihm zustimmte:
    »Abgemacht,
Rotschopf! Diese Stunde noch holen wir ihn vom Ofen — und wenn wir ihn
‘runterprügeln müssen !«
     
    G rischa
und Sascha leerten ihre Gläser, holten die Mützen vom Haken und gingen nach
Hause. Aljoscha Rotschopf folgte ihnen mit den anderen Dorfburschen nach. Alle
wollten dabeisein, wenn Wanja vom Ofen geholt wurde. Lachend und lärmend zogen
sie durch das stille Dorf. Hinter den Zäunen und Toren schlugen die Hunde an und
rasselten mit den Ketten.
    Nach
einer Weile blieb Grischa stehen.
    »Hört
mal, so geht das nicht !« sagte er zu den Burschen.
»Mitkommen — ja. Aber Wassili Grigorewitsch und das Tantchen dürfen nicht wach
werden vor der Zeit, sonst bekommen wir Ärger .«
    »Und
noch was!« Auch Sascha war stehengeblieben. »Die Sache mit Wanja geht niemanden
etwas an außer Grischa und mich. Ihr könnt zu den Stubenfenstern hereinschauen,
wenn ihr Lust habt; aber ins Haus kommt mir keiner von euch herein. Ist das
klar ?«
    Die
Burschen versprachen den beiden alles, was sie verlangten. Schweigend folgten
sie ihnen zum Haus des Bauern Wassili Grigorewitsch.
    Am
Hoftor hieß Grischa die Burschen warten. Er selbst ging mit Sascha hinein. Sie
lösten den Hund von der Kette und sperrten ihn in den Holzschuppen. Dann erst
durften die anderen nachfolgen. Auf Zehenspitzen huschten sie über
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