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Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland

Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland

Titel: Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland
Autoren: Edgar Wolfrum
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Einheit» genannt. Allerdings gab es durchaus Bestrebungen, den demokratischen Rechtsstaat ins Bewusstsein der Deutschen zu rücken. 1974 wurde die Bundesrepublik 25 Jahre alt, und im Vorfeld versuchte die sozialliberale Regierung einen «fröhlichen Feiertag des ganzen Gemeinwesens», eben einen Verfassungstag, am 23. Mai, einzuführen. Er sollte zur Identifizierung mit «unserem Staat» einladen, der den Ansprüchen der Menschen nach Freiheit in Verbindung mit sozialer Sicherheit in bemerkenswerter Weise gerecht würde. Manche wollten gleichzeitig den 17. Juni abschaffen, da man an ihm nur einem gescheiterten Versuch, Freiheit zu erringen, gedachte. In ihren Augen war er ein Trauertag, kein Freudentag.
    Wer mochte an der Notwendigkeit zweifeln, die Bundesbürger aktiv vom Wert der Bonner Demokratie zu überzeugen und dieses Bewusstsein auch historisch zu verankern? Dies schien zum einen vor dem Hintergrund der schwierigen deutschen Demokratiegeschichtesinnvoll und zum anderen, weil die Mehrheit der Bundesdeutschen vor allem auf die D-Mark stolz war, nicht aber auf solch abstrakte Dinge wie «Freiheit» oder «Demokratie». Dolf Sternberger, der bekannte Heidelberger Politikwissenschaftler, würdigte 1979 in einem viel beachteten Artikel der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» das Grundgesetz und überschrieb den Beitrag mit «Verfassungspatriotismus». Damit war ein Begriff für die bereits länger andauernde Debatte gefunden. Einer der Kernsätze Sternbergers lautete: «Das Nationalgefühl bleibt verwundet, wir leben nicht im ganzen Deutschland. Aber wir leben in einer ganzen Verfassung, in einem ganzen Verfassungsstaat, und das ist selbst eine Art von Vaterland.»
    Die häufig vorgebrachte Kritik, Verfassungspatriotismus sei Ausdruck dafür, dass die Westdeutschen die Nation vergessen hätten, ist grundfalsch. Denn ein Verfassungspatriotismus umschloss ja auch die Präambel des Grundgesetzes, also die Verpflichtung des deutschen Volkes, in freier Selbstbestimmung die Einheit in Freiheit zu vollenden. Vieles spricht dafür, dass ein Großteil der Bundesbürger seit Ende der 1970er Jahre Grundwerte vertrat, die durchaus als verfassungspatriotisch bezeichnet werden können: eine aktive Staatsbürgerrolle, Partizipation an der Demokratie, Hochschätzung von demokratischen Institutionen und Verfahren.
    Verfassungspatriotismus ist von konservativen Kritikern als fades Akademikerkonzept bezeichnet worden, dem es an Emotionalität fehle. Affekt- und Erlebnisarmut kennzeichne diese Form des Patriotismus. Doch warum sollte dies so sein? Und wenn dies so wäre? Nach der Hysterie und der exzessiven Emotionalisierung im «Dritten Reich» konnte man eigentlich nichts dagegen einwenden, wenn die politische Kultur der Deutschen sich beruhigt hatte und die Menschen vor allem stolz auf ihre demokratischen Lernleistungen waren.
    12. Was verbarg sich hinter der Behauptung «Bonn ist nicht Weimar»? In der politischen Kultur der frühen Bundesrepublik spielte das Scheitern der ersten deutschen Demokratie – der Weimarer Republik – eine zentrale Rolle. Der Historiker Michael Freund schrieb im Jahr 1958: «Die Furcht vor der Wiederholung stand an der Wiege des Bonner Grundgesetzes. (…) Wiederholt sich – das ist die Frage fast aller Menschen in der Bundesrepublik – das Schicksal der ersten deutschen Republik? (…) Der Geist eines Erschlagenen, der Weimarer Republik, ging durch die Beratungssäle, als die neue Verfassunggeschaffen wurde. Die Väter des Grundgesetzes hatten beinahe einen Ballhausschwur geleistet: Das soll uns nicht noch einmal geschehen.» Weimar war für die Bundesrepublik immer viel mehr als nur eine vergangene historische Epoche. Bis weit in die 1950er Jahre hinein glaubten in- und ausländische politische Beobachter, dass die BRD auf die schiefe Bahn geraten könne, dass ihre Überlebensfähigkeit angesichts der immensen Nachkriegsbelastungen gering sei, kurz: dass sich Weimarer Verhältnisse wiederholen könnten. Umso größer war das Erstaunen über die Stabilisierung und den Erfolg der Demokratie. Es zeigte sich, dass die Bundesrepublik vom Kalten Krieg profitierte. Das «Wirtschaftswunder» und eine kluge Politik versöhnten die Deutschen mit der Demokratie. Als der Schweizer Journalist Fritz René Allemann 1956 eine Analyse der jungen Bundesrepublik unter dem mittlerweile zum Sprichwort geronnenen Titel «Bonn ist nicht Weimar» veröffentlichte, war ein erleichtertes Aufatmen unüberhörbar. Er
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