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Diaspora

Diaspora

Titel: Diaspora
Autoren: Greg Egan
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›Mensch‹ und verknüpften es versuchsweise mit den Regelmäßigkeiten, die das Gestalt-Icon für ›Bürger‹ definierten, und mit den Eigenschaften, die es als Gemeinsamkeit der vielen Bilder von Körperlichen und Gleisner-Robotern erkannte.
    Nach der fünfhundertsten Iteration hatten die Kategorien, die aus den Informationen der Bibliothek gewonnen werden konnten, in den Netzwerken ein Heer von winzigen Subsystemen zur Klassifikation der eingehenden Daten erzeugt: Zehntausende von Wort- und Bild-Fallen, die alle zum Zuschnappen bereit waren, Zehntausende monomanischer Mustersensoren, die in den Datenstrom starrten und ständig nach ihren speziellen Zielobjekten Ausschau hielten.
    Dann stellten diese Fallen Verbindungen untereinander her, die sie zunächst dazu benutzten, ihr Urteilsvermögen aufeinander abzustimmen und Entscheidungen zu vergleichen. Wenn die Falle für das Bild eines Löwen zuschnappte, dann wurden alle Fallen für den Linear-Namen, für die Laute, die andere Löwen von sich gegeben hatten, für gemeinsame Züge ihres beobachteten Verhaltens (die Jungen ablecken, Antilopen jagen) hypersensitiv. Manchmal lösten die hereinkommenden Daten ein ganzes Bündel miteinander verbundener Fallen gleichzeitig aus, was wiederum ihre wechselseitige Verflechtung stärkte, doch manchmal feuerten übereifrige Assoziationsfallen vorzeitig ihre Signale ab. Die Gestalt eines Löwen wurde erkannt – und obwohl das Wort ›Löwe‹ noch nicht registriert wurde, aktivierte sich vorsorglich die Falle für das Wort ›Löwe‹ … und schließlich auch die Fallen für das Ablecken von Jungen und das Jagen von Antilopen.
    Das Waisenkind hatte begonnen, Vorhersagen zu treffen und Erwartungen zu entwickeln.
    Um die tausendste Iteration hatten sich die Verbindungen zwischen den Fallen zu einem komplexen Netzwerk ausgewachsen, in dem ganz neue und eigene Strukturen auftauchten – Symbole –, die sich gegenseitig genauso mühelos auslösen konnten, wie es durch Daten von außen geschah. Die Löwen-Bild-Falle war für sich genommen nicht mehr als eine Schablone gewesen, die vor die Welt gehalten wurde, um eine Übereinstimmung oder eine fehlende Übereinstimmung festzustellen – ein Urteil ohne weitere Bedeutung. Das Symbol des Löwen dagegen konnte ein unbegrenztes Geflecht von Bedeutungen implizieren, und dieses Geflecht ließ sich jederzeit anzapfen, ob nun ein Löwe sichtbar war oder nicht.
    Aus dem simplen Wiedererkennen wurde allmählich der erste Ansatz von Bedeutung.
    Die Infrastrukturfelder hatten für das Waisenkind Standard-Ausgabekanäle für Linear und Gestalt eingerichtet, doch der entsprechende Navigator, der benötigt wurde, um nach außen gehende Daten an eine bestimmte Adresse in Konishi oder anderswo zu schicken, war noch nicht aktiv. Während der zweitausendsten Iteration forderten die ersten Symbole nichtsdestoweniger Zugang zu den Output-Kanälen. Sie benutzten die Schablonen ihrer Falle, um den Klang oder das Bild nachzuahmen, das jedes von ihnen wiederzuerkennen gelernt hatte – und es spielte keine Rolle, ob sie die Linear-Worte ›Löwe‹, ›Junges‹ oder ›Antilope‹ ins Leere sprachen, denn die Input- und Output-Kanäle waren intern zusammengeschlossen.
    Das Waisenkind hörte erstmals sich selbst denken.
    Nicht das gesamte Gedankenchaos, denn es konnte nicht allen Dingen gleichzeitig eine Stimme – oder auch nur ein Bild – geben. Von den Myriaden Assoziationen, die jede Szene aus der Bibliothek wachrief, konnten jeweils nur ein paar Symbole die Kontrolle über die entstehenden Netzwerke zur Spracherzeugung gewinnen. Und obwohl Vögel am Himmel kreisten und das Gras im Wind wogte und eine Wolke aus Staub und Insekten von den Tieren aufgewirbelt wurde – und noch sehr viel mehr –, blieben trotzdem vor dem Verschwinden der ganzen Szene als einzige Symbole übrig:
    »Löwe jagt Antilope.«
    Erschrocken unterbrach der Navigator den Strom externer Daten. Die Linear-Worte zirkulierten von Kanal zu Kanal und hoben sich deutlich von der Stille ab; die Gestalt-Bilder riefen immer und immer wieder die Essenz der Jagd wach, eine idealisierte Rekonstruktion, entkleidet von allen vergessenen Details.
    Dann verblaßte das Gedächtnis, und der Navigator griff erneut auf die Bibliothek zu.
    Die eigentlichen Gedanken des Waisenkindes reduzierten sich nie auf eine einzige geordnete Abfolge – eher wurden Symbole in immer vielfältigeren und komplexeren Kaskaden abgefeuert –, aber durch positive
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