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Diaspora

Diaspora

Titel: Diaspora
Autoren: Greg Egan
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Rückkopplung wurde der Fokus schärfer, und im Geist erzeugten die stärksten Vorstellungen einen lauten Nachhall. Das Waisenkind hatte gelernt, ein paar Fäden aus den endlosen, tausendsträngigen Argumenten der Symbole auszusortieren. Es hatte gelernt, seine eigene Erfahrung als Geschichte zu erzählen.
    Das Waisenkind war jetzt fast einen halben Megatau alt. Es verfügte über ein Vokabular von zehntausend Worten, über ein Kurzzeitgedächtnis, über Erwartungen, die sich mehrere Tau in die Zukunft erstreckten, und einen einfachen Bewußtseinsstrom. Aber es hatte immer noch keine Ahnung davon, daß es selbst in einer Welt existierte.
     
    Der Konzeptor verfolgte aufmerksam jede Iteration des sich entwickelnden Geistes und notierte gewissenhaft die Auswirkungen der zufällig ausgewählten unbestimmten Felder. Ein vernunftbegabter Beobachter hätte diese Informationen vielleicht als eine Vielzahl fragilster, ineinander verschlungener Fraktale visualisiert, wie verflochtene, hauchzarte Null-g-Kristalle, die immer feinere Verästelungen kreuz und quer in die Plazenta vorschoben, während die Felder dechiffriert und abgearbeitet wurden und sich ihr Einfluß über immer weitere Netzwerke ausdehnte. Doch der Konzeptor visualisierte nichts, er verarbeitete lediglich die Daten und gelangte zu bestimmten Schlußfolgerungen.
    Bis zu diesem Punkt schienen die Mutationen keine Schäden angerichtet zu haben. Jede individuelle Struktur im Geist des Waisenkindes funktionierte im wesentlichen den Erwartungen entsprechend, und der Austausch mit der Bibliothek sowie Stichproben einzelner Datenströme wiesen keine Anzeichen globaler Störungen auf.
    Wenn Schäden an einer Psychoblastula festgestellt wurden, gab es im Prinzip nichts, was den Konzeptor daran hinderte, in das Geschehen einzugreifen und jede mißgestaltete Struktur zu reparieren, doch die Konsequenzen konnten genauso unvorhersehbar sein wie das Wachstum eines unbeeinflußten Keims. Begrenzte ›chirurgische‹ Eingriffe führten manchmal zu Inkompatibilitäten mit den übrigen Strukturen der Psychoblastula, während Änderungen, die weitreichend und gründlich genug waren, um einen Erfolg zu garantieren, ins Gegenteil umschlagen konnten, wenn sie praktisch die ursprüngliche Psychoblastula auslöschten und sie durch eine Auswahl von Teilen ersetzten, die aus erfolgreichen Vorbildern geklont waren.
    Doch es konnte auch riskant sein, gar nichts zu unternehmen. Sobald eine Psychoblastula Selbstbewußtsein erlangte, wurde ihr die Bürgerschaft verliehen, womit ein Eingriff ohne ihr Einverständnis unmöglich wurde. Dieses Prinzip war keineswegs nur eine Angelegenheit von Konventionen oder Richtlinien, sondern war in das Fundament der Polis eingearbeitet. Ein Bürger, der dem Wahnsinn verfiel, konnte mehr als ein Teratau im Zustand der geistigen Verwirrung und des Leids verbringen, während der Geist zu sehr gestört war, um die Genehmigung zur Hilfe zu erteilen oder auch nur die Selbstauslöschung zu wählen. Das war der Preis der Autonomie: das unveräußerliche Recht auf Wahnsinn und Schmerz, das nicht vom Recht auf Ruhe und Ungestörtheit abzutrennen war.
    Also hatten die Bürger von Konishi den Konzeptor darauf programmiert, im Zweifelsfall Vorsicht walten zu lassen. Er setzte seine aufmerksame Beobachtung des Waisenkindes fort und war bereit, die Psychogenese beim ersten Anzeichen einer Fehlfunktion abzubrechen.
     
    Kurze Zeit nach der fünftausendsten Iteration begann der Output-Navigator des Waisenkindes Signale abzufeuern – worauf ein heftiges Tauziehen einsetzte. Dieser Navigator war darauf programmiert, eine Rückkopplung zu erwarten, jemanden oder etwas anzusprechen, das auf irgendeine Weise reagierte. Doch der Input-Navigator hatte sich längst daran gewöhnt, sich auf die Polis-Bibliothek zu beschränken, ein Verhalten, das intensiv belohnt wurde. Beiden Navigatoren war außerdem der Drang immanent, sich aufeinander abzustimmen, sich mit derselben Adresse zu verbinden, um dem Bürger zu ermöglichen, im gleichen Zusammenhang zu hören und zu sprechen, was eine nützliche Voraussetzung für ein Gespräch war. Doch das bedeutete, daß das sprachliche und bildliche Gebrabbel des Waisenkindes an die Bibliothek zurückgeschickt wurde, die es vollständig ignorierte.
    Angesichts dieses totalen Desinteresses schickte der Output-Navigator Unterdrückungssignale in die Netzwerke der Veränderungsdifferenzierer, um die Attraktivität der aufregenden
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