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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm
Autoren: Iny Lorentz
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Habe in ihrem Koffer. Dabei spürte sie, wie die Starre, in die ihr Geist nach dem tödlichen Geschehen verfallen war, von ihr abfiel. Nun aber hallte das Donnern der Schüsse in ihr wie ein Echo wider, und sie glaubte, überall Blut zu sehen. Es quoll aus den Wänden, als sei das Gutshaus selbst ein zu Tode verwundetes Lebewesen, das sie mit in seinen Untergang hineinziehen wollte. Entsetzt stopfte Lore die letzten Sachen in den Koffer, ohne sie vorher zusammenzulegen, schlossihn, warf den Mantel über und verließ das Haus, so schnell sie konnte.
    Draußen begann sie zu rennen, bis ihre Lunge in der Kälte stach, und als sie sich umblickte, lag der Herrensitz von Trettin weit hinter ihr. Kurz darauf sah sie die ersten Katen des Dorfes vor sich auftauchen, und als sie die Dorfstraße entlangstolperte, wusste sie kaum noch, woher sie die Kraft nahm, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie nahm neugierige Gesichter an den Fenstern und Türen der Häuser wahr, aber niemand kam auf sie zu. Ihr schien es, als seien die Leute, die ja vom Gut lebten, so eingeschüchtert worden, dass sie sich nicht einmal zu fragen trauten. Die Mienen der Dörfler aber und ihre aufgeregten Stimmen verrieten ihr, dass man die Schüsse des großkalibrigen Jagdgewehrs bis ins Dorf gehört haben musste. Da sie auch einige Dienstboten des Gutshofes bei den Katen stehen sah, wurde ihr klar, dass die Nachricht von dem Mord an Ottokar von Trettin das Dorf bereits erreicht hatte.
    Kurz darauf nahm sie wahr, wie die Frau des Pastors aus dem Haus schoss und mit begieriger Miene auf sie zukam. Um nicht von dieser unangenehmen Person ausgequetscht und vielleicht wieder geohrfeigt zu werden, beschleunigte Lore ihren Schritt und betrat fluchtartig den Kirchhof. An dem schlichten Stein, der das Grab ihrer Eltern und Geschwister kennzeichnete, blieb sie stehen und versuchte, ihr hart klopfendes Herz zu beruhigen.
    In dem Moment überfiel sie das ganze Elend, das sie seit dem Brand ihres Elternhauses mit sich trug. Ottokar von Trettin hat sie alle umgebracht!, hämmerte es in ihrem Kopf, und ihr wurde zum ersten Mal wirklich bewusst, wie knapp sie damals dem Feuertod entgangen war. Ihr Verwandter musste das Haus in dem Glauben angezündet haben, sie läge ebenfalls in ihrem Bett. Nun begann sie den Mann mit einer Inbrunst zu hassen, die sie selbst erschreckte, denn im Gegensatz zu ihren Lieben, die unter ihr ineinem gemeinsamen Grab lagen, hatte Ottokar von Trettin nicht gelitten, sondern ein schnelles Ende gefunden.
    Lore versuchte ein Gebet zu sprechen, doch ihre Gedanken wirbelten so stark, dass sie den Text nicht zusammenbrachte. Zitternd und immer wieder vor Schwäche taumelnd, wanderte sie ohne ihren Koffer über den Friedhof, bis sie den düsteren, ungepflegten Teil erreichte, in dem die Armesündergräber lagen. An einer Stelle kündete ein einfaches Holzkreuz, das Kord gefertigt und mit ungelenker Hand beschriftet hatte, dass hier Wolfhard Nikolaus von Trettin, der ehemalige Majoratsherr von Trettin, begraben lag. Auch er war Ottokars ungezügelter Gier zum Opfer gefallen. Ohne dessen Griff nach dem Gut und die hasserfüllten Attacken, mit denen er und Malwine ihren Großvater bis zuletzt verfolgt hatten, hätte der alte Herr noch lange zufrieden und glücklich leben können. Schließlich hatte Ottokar auch das Leben des Kutschers Florin zerstört und damit sein eigenes Ende herbeigeführt.
    Der Gedanke an das Elend und die Schmerzen, die Ottokars Opfer erlitten hatten, machte es ihr unmöglich, den Tod ihres Verwandten zu bedauern. Die christliche Lehre forderte zwar, auch den Sündern zu verzeihen, doch das brachte Lore nicht fertig. Dafür war zu viel geschehen.
    Die Frau Pastor hatte ihr Schultertuch aus dem Pfarrhaus geholt, um sich gegen den scharfen Wind zu schützen, und war Lore auf den Kirchhof gefolgt. »Was ist oben im Gutshaus geschehen, Mädchen? Es soll Mord und Totschlag gegeben haben. Mein Mann ist doch Hoffentlich wohlauf?«
    Lore drehte sich um und sah die Frau an, als müsse sie sich erst erinnern, wen sie vor sich hatte. Ihre Lippen zuckten, als sie daran dachte, wie harsch die Frau des Pfarrers sie früher behandelt hatte. Doch ihre anerzogene Höflichkeit zwang sie, zu antworten.
    »Der Gutsherr ist tot. Sein ehemaliger Kutscher hat ihn erschossen!«Mit diesem knappen Bericht ließ Lore die Frau stehen und kehrte zum Grab ihrer Eltern zurück. Dort hob sie ihren Koffer auf, verließ den Friedhof und schritt die Straße
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