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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm
Autoren: Iny Lorentz
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verstanden, was sie meinte. Die Behörden würden sich dafür interessieren, was genau hier geschehen war, und dabei auf die Aussagen stoßen, die Florin gemacht hatte. Die Anklage, Ottokar hätte das Lehrerhaus angezündet und damit Lores ganze Familie auf dem Gewissen, schwang noch im Raum. Die Dienstboten erinnerten sich nun an Mienes Worte, tuschelten miteinander und entfernten sich möglichst unauffällig vom Schauplatz des Geschehens. Der Pastor blieb neben dem Toten stehen und sprach ein Gebet, das der Seele des Ermordeten galt, aber auch seiner Überzeugung Ausdruck gab, Florin habe nur eine üble Verleumdung von sich gegeben. Dies hoffte auch der neue Lehrer, der bislang voller Ehrfurcht zu dem Gutsherrn aufgeschaut hatte und es auch jetzt nicht wagte, ein Wort zu sagen.

VI.
     
    Lore wurde nicht weniger von Entsetzen geschüttelt als die Dienstboten, die wie Schatten verschwunden waren. Nun begriff sie die Zusammenhänge, die ihr bisher verborgen geblieben waren, und in ihren Augen wuchs Ottokar von Trettin sich zu einem Monster aus, das in seiner Gier, den Besitz derer von Trettin ansich zu bringen, über Leichen gegangen war. Eines aber erleichterte sie: Nach diesem Tag würde niemand mehr von ihr verlangen können, hierzubleiben. Sie überlegte, ihre Sachen zu holen und das Gut stehenden Fußes zu verlassen, doch sie zögerte, denn ohne Geld und mit der Aussicht, bei dem nasskalten Wetter möglicherweise bis Heiligenbeil zu Fuß gehen zu müssen, schien ihr das wenig erstrebenswert. Daher klammerte sie sich an die Vorstellung, Fridolin und Konrad müssten jeden Moment auftauchen und sie von hier fortbringen.
    Während die meisten Menschen um sie herum beinahe lautlos den Salon verließen, versuchte Lore, den Schock zu überwinden. Zu vieles war seit dem Mord an ihrer Familie auf sie eingestürzt, und es war, als öffneten sich Schleusen in ihrem Innern, die all die schrecklichen Erlebnisse, die über sie hereingebrochen waren, wieder freigaben. Schließlich raffte sie sich auf und wollte das Zimmer verlassen, um einen Ort zu finden, an dem sie mit ihren Tränen allein sein konnte.
    Da fiel Malwines Blick auf sie. Das Gesicht der Frau verzerrte sich vor Hass und Abscheu, und bevor jemand sie aufhalten konnte, stürzte sie sich auf Lore und schlug wie von Sinnen auf sie ein. »Du bist schuld! Du hast Florin zu dieser Tat aufgehetzt!«
    Diese Beschuldigung war selbst dem Pastor zu viel. Er packte Malwine und zerrte sie von Lore weg. »Nehmen Sie doch Vernunft an, Frau von Trettin. Lore war doch bis gestern fort! Wie hätte sie da mit diesem Mann sprechen oder ihn gar zu einem solch scheußlichen Mord überreden können?«
    »Sie war es, sie war es!«, kreischte Malwine wie von Sinnen.
    Der Pastor schob sie schließlich Elsie und einer kräftigen Magd in die Arme. »Bringt sie in ihr Zimmer und bleibt bei ihr. Jemand sollte den Arzt holen, damit er Frau von Trettin ein Beruhigungsmittel gibt. Außerdem muss er den Totenschein für die beiden Männer ausstellen.«
    »Ich habe Doktor Mütze vorhin nach Elchberg fahren sehen. Ich schicke rasch einen Knecht hinüber, damit er ihm Bescheid sagt!« Der Gutsinspektor vergaß ganz, dass der neue Gutsherr und dessen Frau ihnen allen streng verboten hatten, diesen Arzt zu rufen, weil er Wolfhard von Trettins Freund gewesen war. Stattdessen hatten sie nach dem alten Mediziner aus Zinten schicken lassen. Doch im Augenblick hinterfragte niemand seine Entscheidung.
    Lore war erleichtert, den ihr bekannten Namen zu hören, denn Doktor Mütze würde ihr hoffentlich für ein paar Tage Asyl gewähren, bis ihre Helfer erschienen.
    Kaum hatte Elsie mit Unterstützung zweier Mägde die Gutsherrin weggebracht, wandte der Pastor sich an Lore. »Ich glaube, es ist besser, wenn du vorerst ins Pfarrhaus umziehst, damit du Frau von Trettin in den nächsten Tagen nicht unter die Augen kommst. Wie es scheint, hat ihr Geist unter dieser schrecklichen Tat gelitten, und es wird einiger inniger Gebete bedürfen, damit Gott sie aus der Finsternis zurückholt.«
    Lore sah sich schon unter der Knute des Pfarrers für Malwine beten und schüttelte sich innerlich. Aber sie ließ sich nichts anmerken, sondern nickte, als sei sie mit allem einverstanden, und verließ den Raum. Doktor Mütze würde auf dem Rückweg gewiss am Haus des Pfarrers vorbeifahren, und dort konnte sie den Arzt abpassen.
    Mit steifen Schritten stieg sie in die Dachkammer hoch, zog sich warm an und verstaute den Rest ihrer
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