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Deutschlehrerin

Deutschlehrerin

Titel: Deutschlehrerin
Autoren: J Taschler
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keine Lust, achtzehn Jahre lang oder noch länger in einer Art Schraubzwinge zu stecken, ich will keine Verantwortung übernehmen für ein anderes Lebewesen, ich kann kaum Verantwortung für mich übernehmen, nicht mal für meine Nasenhaare, die wuchern und wuchern, Mathilda würde liebend gern Verantwortung übernehmen, ihr ganzes Sein besteht aus Verantwortungsgefühl, unbedingt will sie ein Kind von mir, Kinder zu haben gehört für sie zu einem erfüllten Leben, ein erfülltes Leben, das klingt so schrecklich, als müsste der Mensch darin ertrinken, ich bedauere die Menschen, die an Glück und ein erfülltes langes Leben glauben und darauf hoffen, sie sprudeln jeden Tag über vor lauter Frohsinn und Lebenstüchtigkeit, mit all ihren Taten zeigen sie den Mitmenschen: Seht her, wie ich mein Leben im Griff habe!, Seht her, wie aktiv und fleißig ich bin! Den ganzen Tag gackern sie vor sich hin, diese Turbomenschen, von früh bis spät, ach, ich bin so gut, ich schaukle jegliche Herausforderung, ob Job oder Familie, mit links, ich koche so gut, ich bin so sportlich, ich habe so viele Freunde, ich kenne keine Langeweile, und so weiter, für sie ist das Glas immer halb voll, nie halb leer, was für ein blödes Sprichwort übrigens, das müssen Lebenstüchtige erfunden haben, um damit den Lebensüberdrüssigen entgegenhalten zu können: Warum ist für dich das Glas immer halb leer?, am liebsten würde ich ihnen das Glas über den Schädel ziehen, sie sind Meister im Schönfärben, ich kann das Leben nicht schönfärben, es ist für mich das, was es ist, nämlich elend und sinnlos, ich hänge nicht daran, ich ertrage es nur, indem ich schreibe, habe aber auch nie Suizidgedanken, warum etwas qualvoll beenden, dem man keinen Wert beimisst?, Warum ekelt mich das Leben an?, Weil es ohne Mitmenschen nicht stattfinden kann, das ist es, die Menschen sind so menschlich, das widert mich an, warum müssen die Menschen menschlich sein, warum können sie nicht einfach nur Menschen sein, Mathilda zum Beispiel liebt es, vor mir auf der Toilette zu kacken, während ich Zähne putze, jedes Mal, wenn ich ins Bad schlurfe und die Zahnbürste zur Hand nehme, huscht sie herein und setzt sich auf das Klo, um seelenruhig ihr großes Geschäft zu verrichten, mit einem erleichterten Lächeln im Gesicht und mit der Zeitung in der Hand, für sie ist es der Inbegriff der Vertrautheit in unserer Beziehung, für mich ist es der Wahnsinn, wenn meine Mutter neben mir ihr Gebiss herausnimmt, um es zu putzen, muss ich fast erbrechen, wenn die fette Nachbarin ihre Einkaufstaschen das Stiegenhaus heraufschleppt, riesige Schweißflecken unter den Achseln, keuchend, hustend und grünen Schleim auf den Boden spuckend, würde ich sie am liebsten strangulieren, wenn mich Mathilda mit ins Krankenhaus schleppt, um eine im Endstadium krebskranke Schülerin zu besuchen, diese dann glatzköpfig, mager bis durchscheinend, gelb im eingefallenen Gesicht, mit wunden Augen vor mir liegt, und wenn ich in der Zeitung von verstümmelten Kriegsgefangenen lese, würde ich am liebsten an den Vatikan schreiben und Ablass fordern, für das jahrtausendelange Vorgaukeln der Illusion, es gäbe einen guten und gerechten Gott, was meine Religionslehrerin in der Volksschule so formuliert hat: »Für das Gute auf der Welt ist Gott zuständig, für das Böse, das passiert, sind die Menschen selber verantwortlich«, ein vollkommener Schwachsinn, Kindern einzureden, Menschen würden nur Böses zuwege bringen, er hat uns ja erschaffen, so fehlerhaft, so menschlich, die Natur trägt auch menschliche Züge in sich, es gibt Wirbelstürme, Lawinen, Erdbeben, Überschwemmungen, manchmal, wenn ich auf einer Wiese liege und zahlreiche grauenhafte Insekten über mich kriechen, denke ich mir, eigentlich sollte man die gesamte Natur einbetonieren, ich träume oft davon, eines Tages aufzuwachen und völlig alleine auf der Welt zu sein, ich wäre nicht nur der einzige, sondern auch der glücklichste Mensch auf dem Planeten, vor der Einsamkeit hätte ich keine Angst, im Gegenteil, ich würde herummarschieren, in jedes leere Haus hineingehen und darin stöbern, Fotos ansehen und mir einen Reim auf die Menschen machen, die hier gelebt haben, mir ihr Leben ausmalen, Geschichten über sie ausdenken, ich brauche keine Menschen, aber doch die Geschichten, die ihr Leben schreibt, sonst hätte ich ja nichts zu schreiben, also ohne Menschen keine Geschichten, und ohne Menschen keine Leser, das ist plausibel,
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