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Deutschlehrerin

Deutschlehrerin

Titel: Deutschlehrerin
Autoren: J Taschler
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stilvoll eingerichtet! Das ist wirklich ein Haus zum Wohlfühlen.
    Mathilda: Eine Wohnung ist wie eine zweite Haut. Weißt du noch?
    Xaver (lacht): Wohingegen ein Auto nur ein Mittel zum Zweck ist.
    Mathilda: Den Keller samt Bunker zeige ich dir morgen. Jetzt gibt’s erst mal Kaffee.
    Xaver: Bunker?
    Mathilda: Tante Maria hat sich nach der Tschernobyl-Katastrophe einen Bunker bauen lassen. Sie hat das Ganze sehr ernst genommen, ist nur noch mit dem Geigerzähler in der Gegend herumgerannt und hat Strahlenwerte gemessen. An dem Tag, an dem die Katastrophe im Fernsehen gemeldet wurde, ist sie in den Supermarkt gefahren, hat den ganzen Milchvorrat aufgekauft und zu Hause eingefroren.
    Xaver: Hm, der Kaffee tut gut. – Wieso das denn?
    Mathilda: Weil die Kühe ja nach der Katastrophe das verstrahlte Gras fressen würden. – Kuchen?.
    Xaver: Danke, sehr gern. Mein Gott, ist das komisch.
    Mathilda: Sie hat selbst einen Bunker geplant und ihn danach in Auftrag gegeben. Ein Jahr lang wurde gebaggert und gebaut. Die Nachbarn haben sie für völlig verrückt gehalten. Sie hat nicht gespart. Es ist kein kleiner, finsterer Raum, sondern eine richtige Wohnung unter der Erde, mit einem Vorraum, einer Wohnküche, einem Schlafzimmer, einem Bad und einem perfekten Lichtsystem. Sie war richtig enttäuscht, weil es nach Tschernobyl zu keiner Atomkatastrophe mehr gekommen ist.
    Xaver: In wen war Tante Maria eigentlich unglücklich verliebt?
    Mathilda: Willst du die Geschichte wirklich hören?
    Xaver: Ja, klar.
    Mathilda: Sie hat sie mir zu Weihnachten 96 erzählt. Obwohl es der 25. Dezember war, sind wir auf der Terrasse gesessen, weil es so ein sonniger Tag war. Der ganze Garten war verschneit, nur eine einzige Rose hat geblüht. Ja, wirklich, es war richtig kitschig. Die alte Dame hat Tee und selbst gebackene Kekse serviert, das Teeservice war sicher ein Jahrhundert alt. Die ganze Situation hat surreal auf mich gewirkt. Und ich habe mich zum ersten Mal wohlgefühlt, seit –
    Xaver: Der Kuchen schmeckt echt lecker. – Erzähl weiter, in wen hat sie sich verliebt?
    Mathilda: Nach dem Krieg, sie war vierundzwanzig, hat sie einen französischen Besatzungssoldaten kennengelernt: Jean, Medizinstudent, aus einer angesehenen Ärztefamilie in Nizza. Sie waren mehr als vier Jahre zusammen. Maria wollte mit ihm zurück in seine Heimat gehen und Jean hat um Entlassung aus der Armee angesucht. Die Rückreise war schon geplant und festgelegt. An dem Abend, an dem er sie abholen sollte, ist sie im Garten ihres Elternhauses auf ihrem Koffer gesessen und hat auf ihn gewartet. Alle Nachbarn haben sie heimlich hinter zugezogenen Vorhängen beobachtet. Jean ist die ganze Nacht nicht aufgetaucht.
    Xaver: Gar nicht mehr?
    Mathilda: Nein. Am nächsten Tag hat Maria seine Freunde und Kollegen gefragt und die haben ihr erzählt, dass er einen Tag vor der geplanten Heimreise überstürzt abgereist ist. Sein Vater liege im Sterben, hat er erzählt.
    Xaver: Hat sie ihm Briefe geschrieben?
    Mathilda: Viele. Er hat aber nie geantwortet.
    Xaver: Ist sie ihm nicht einfach nachgereist?
    Mathilda: Hätte ich das auch tun sollen?
    Xaver: Mathilda –
    Mathilda: Ja?
    Xaver: Bei uns lagen die Dinge etwas anders.
    Mathilda: Ach ja? – Warum hätte Maria das tun sollen? Er wollte ja offensichtlich sein Leben nicht mit ihr teilen.
    Xaver: Traurige Geschichte. Habt ihr vorher gar nichts davon gewusst?
    Mathilda: Nein, Vater hat uns das nie erzählt. Maria hat dann einen eigenen Modesalon eröffnet, sie war ja gelernte Schneiderin. Sie hat nur für ihre Kunden gelebt und sich auch nie wieder verliebt. Sie wurde eine richtig beinharte und wohlhabende Geschäftsfrau.
    Xaver: Hat sie dir auch ihr Vermögen vererbt?
    Mathilda: Nein, das Geld hat sie dem SOS -Kinderdorf vermacht. Ich habe das Haus bekommen. Ich bin also nicht reich, wenn du das wissen willst. Den Kredit für den Umbau zahle ich immer noch ab.
    Xaver: Warum hat sie es dir vererbt und nicht irgendeiner Freundin oder treuen Mitarbeiterin hier in der Stadt? Ihr habt euch ja kaum gekannt. Wie oft habt ihr euch in eurem Leben überhaupt gesehen? An die zehn Mal?
    Mathilda: Sie hat sich mit mir solidarisch gefühlt, weil ich auch verlassen wurde. – Auf alle Fälle ist Tante Maria zwei Monate nach meinem Besuch gestorben, sie ist einfach eingeschlafen. Sie ist geschminkt und in ihrem schönsten Kostüm und Stöckelschuhen tot beim Frühstück gesessen. Eine Nachbarin wollte sie gerade abholen, weil sie einen
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