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Deutschlandflug

Titel: Deutschlandflug
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Gustav las er begeistert die Schilderungen des italienischen Grafen Zambeccari. Dieser hatte ein halbes Jahrhundert vorher tollkühne Ballonfahrten durchgeführt. In ihrer pommerschen Heimat diente den Brüdern der Storch als Studienobjekt. Sie machten dabei eine Entdeckung, die heute eine Binsenwahrheit ist: Die Vögel drehten sich stets gegen den Wind, ehe sie sich erhoben. Hieraus schlossen sie, daß beim Anblasen durch Luft Auftrieb entstand. Otto, der aktivere der Brüder, fand durch Drachenversuche bald eine wichtige Formel: An einer leicht nach oben gewölbten Oberfläche entsteht ein Sog, an der Unterseite beim Anblasen ein Druck. Sog und Druck stehen etwa im Verhältnis zwei zu eins. Zunächst mußte Geld für weitere Forschungen besorgt werden. Der Architekt Gustav ging für fünf Jahre nach Australien; sein Bruder Otto errichtete in Berlin-Steglitz eine Maschinenfabrik. Sein damals geschriebenes Buch Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst gilt noch heute bei Segelfliegern als Geheimtip. Seine ersten Sprünge mit selbstgebauten Gleitflugzeugen gelangen ihm 1890. Nach vielen Vorversuchen sah man ihn in den Berliner Havelbergen, wo er Sprünge bis zu fünfhundert Metern zurücklegte. Während sein Bruder Gustav sich ganz der Idee des Flügelschlagflugzeuges widmete, ging Ottos Streben auf ein Motorflugzeug hinaus. Ihm stand ein kleiner Kohlensäuremotor von zwei PS zur Verfügung. Bei der Erprobung neuer Steuerungseinrichtungen stürzte er am 9. August 1896 ab. Seine letzten Worte waren: Opfer müssen gebracht werden. Heute fühlen wir Deutsche und mit uns Flugbegeisterte in der ganzen Welt uns dem Vermächtnis Otto Lilienthals verpflichtet. Auf seinen Namen wird …«
    »Hallo, Niko«, sagte die Stimme aus der ›Intercom‹- Anlage. »Bist du noch da?«
    Auf dem Vorfeld löste sich langsam die Maisonne von der Erde, durchdrang die Nebelfetzen, stieg in den klaren, wolkenlosen Himmel und verjagte die letzten Schwaden. Die Duralrümpfe röteten sich in ihrem Schein und schienen Leben zu gewinnen, als errege sie der Drang, die Erde zu verlassen.
    An diesem deutschen Frühlingsmorgen hatte sich die Gegend südlich Frankfurts und östlich des Rheins in einen einzigen Rausch jubelnder Festlichkeit verwandelt. Ganz Hessen und Niederbayern schienen auf dem Weg zum neuen Flughafenspektakel zu sein:
    Laut schwatzende Schulklassen, fähnchenschwenkend. Reporter, Kabelleger, Kameramänner. Busladungen voller angereister Schaulustiger – aus dem Saarland, der Wetterau, dem Odenwald, aus Rheinland-Pfalz und dem Rhönkreis. Schon früh waren die Aussichtsterrassen verstopft. Die Zufahrtstraßen boten das gleiche Bild. Lautsprechermusik allüberall. Scheinwerfer, Kamerablitze. Brodelnde Menschenmengen.
    Nach heftigen Stürmen mit Schnee, Hagelschauern und blizzardähnlichen Gewittern hatte plötzlich der Frühling eingesetzt. Ein Tag wie aus Samt und Seide. Die Luft klar wie Gin. Vom nahen Spessart leuchtete das erste frische Grün von Buchen und Ahornbäumen herüber.
    Jedermann, selbst in der dicksten Autoschlange, war festlich gestimmt. Niemand wollte sich seine gute Laune verderben lassen. Niemand wollte die Superschau des Jahrzehnts versäumen.
    »Nur Fasching ist schöner!« murmelte Richard Quandt, als er mit seinem weißen Mercedes in die Flughafenauffahrt einbog.
    Der Direktor von Deutschlands zweitgrößter Fluggesellschaft ›Avitour‹ versuchte, durch Ironie seine Hochstimmung herunterzuspielen.
    Wenige Stunden vorher, als er die Vorhänge seines Schlafzimmerfensters zurückgezogen hatte, schien die Welt alles andere als erfreulich: Dicker Nebel hing in den Gartenbäumen. Nichts Schöneres als ein deutscher Frühlingstag, dachte er beim Frühstück mit Salami, Katenschinken und Eiern im Glas. Selbst die Vögel gehen zu Fuß!
    Später, auf der neuen Zubringerstraße, die sich von Darmstadt und der Frankfurt-Mannheimer Autobahn mit kühnen Bögen sechsspurig zum Flughafen hinschwang, hoben sich die Nebelschleier. Als er durch die Triumphallee von Flaggen, schwarzen Regierungs-Mercedeslimousinen und Kamerabatterien fuhr, schlug sein Herz höher.
    Dieser Tag krönte sein Lebenswerk.
    Es war ihm gelungen, ›Avitour‹ aus dem diffusen Dunkel einer Nur-Chartergesellschaft ans Tageslicht ehrlicher Anerkennung zu heben. Sie war zur zweitgrößten Fluggesellschaft Deutschlands geworden. Den ersten Platz überließ er neidlos der ›Lufthansa‹. In Anlehnung einer amerikanischen Mietwagenreklame der
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