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Der Zwergenkrieg

Der Zwergenkrieg

Titel: Der Zwergenkrieg
Autoren: Kai Meyer
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dort hinabgeführt.
    Obbo hatte das Portal fast erreicht. Er grummelte irgendeine Antwort auf Mütterchens Zuruf, die sie nicht verstand, und das war wahrscheinlich gut so.
    Der
Wolfswinkel
lag in den Wäldern am Ostufer des Rheins. Der Hohle Berg dagegen bildete, gemeinsam mit seinem Zwillingsgipfel, auf dem sich die verlassene Burg der toten Fürsten Nibelung und Schilbung erhob, eine Halbinsel mitten im Fluss, die nur über eine bewaldete Landbrücke zu erreichen war. Vor zwei Jahren hatte Siegfried die beiden Nibelungenfürsten und ihre tapfersten Ritter erschlagen und den Hort im Hohlen Berg für sich beansprucht. Alberich aber, der letzte Zwerg am Rhein, war weiterhin Hüter des Schatzes geblieben, bis zu jenem Tag, an dem Siegfried zurückkehren und den Hort abtransportieren würde. Der Xantener hatte dem Zwerg die magische Tarnkappe gestohlen, was Alberich vor die Schwierigkeit stellte, den Schatz ohne Zauberwerk verteidigen zu müssen. Drei Gefährten hatten sich ihm zur Seite gesellt: zum einen Mütterchen Mitternacht, ehemalige Räuberbraut und einstmals das schönste Weib der Wälder, heute eine rüstige Greisin – ein Wort, für das manch einer schon ein Ohr, einen Finger oder gar das Leben eingebüßt hatte. Dann war da Löwenzahn, ein tumber, aber liebenswerter Hüne, in dessen Adern ein Anteil Hunnenblut floss. Und zuletzt Geist, das rätselhafte Moosfräulein, auf das die Magie des toten Drachen übergegangen war; keiner vermochte genau zu sagen, ob in ihrem Inneren wirklich nur der Zauber oder auch ein Stück vom Drachen selbst weiterlebte.
    »Ho!«, rief Obbo aus und brachte den Karren vor dem haushohen Portal zum Stehen. Die mächtigen Torflügel waren mit filigranen Einlegearbeiten verziert. Albenschmiede hatten den einzigen Eingang des Hohlen Berges vor vielen Jahrhunderten geschaffen, damals, als noch ein ganzes Zwergenvolk in den unterirdischen Hallen und Fluren lebte.
    Doch das war lange her. Heute hauste hier nur noch ein einziger Zwerg, und der drängte sich in eben diesem Augenblick auf höchst unhöfliche Art und Weise an Mütterchen vorbei und trat aus dem Schatten des Torbogens. Seine gespannte Armbrust wies auf Obbos Wanst, sodass der arme Wirt ganz fahl um die Nase wurde.
    Obbo hob die Hände und stotterte: »Freund Alberich, ich bitte dich allerfreundlichst, dich zu …«
    Alberich raunzte mit grimmiger Miene dazwischen: »Hast du alles dabei, so wie ich es dir aufgetragen habe?«
    Mütterchen verzog hinter dem Rücken des Zwerges das Gesicht.
Wie ich es dir aufgetragen habe –
pah! Hätte sie nicht regelmäßig Listen geschrieben und hinab zu Obbo ins Wirtshaus gebracht, würde ihnen allen schon längst der Magen knurren. Alberich hatte sich nie um dergleichen gekümmert. Aber sie wusste auch, dass es dem Zwerg gefiel, mit seiner Wildheit und Kratzbürstigkeit zu prahlen.
    Mit einem Blick über Alberichs Schulter vergewisserte sie sich, dass die Armbrust gesichert war. Der Zwerg mochte damit noch so aufgebracht vor Obbos Nase fuchteln, der Bolzen würde sich nicht lösen. Alberich wollte Obbo nur einen Schrecken einjagen, wie er es regelmäßig tat, um den Preis zu drücken. Dabei spielte es für ihn keine Rolle, dass er über einen Schatz von unermesslicher Größe verfügte. Er knauserte mit jeder Münze, vor allem dem armen Obbo gegenüber.
    »Ich habe alles dabei«, versicherte der Wirt. Das Pony stieß ein Schnauben aus, und Obbo zuckte zusammen, als hätte er das Geräusch mit dem Pfeifen der Armbrustsehne verwechselt.
    Alberich lachte schadenfroh und senkte die Waffe. »Tut mir leid, Freund Obbo, aber es könnte immerhin sein, dass du Räuber an unser offenes Tor führst.«
    »Das glaubst du nicht wirklich!«, empörte sich der Wirt.
    Der Zwerg stieß ein knarrendes Kichern aus. Mütterchen hatte allmählich Mitleid mit Obbo, der Alberichs Attacken nicht gewachsen war. Natürlich würde der Wirt sie niemals betrügen, ganz gewiss nicht freiwillig, und falls ihn irgendwer dazu zwingen sollte, würde man es ihm mit Sicherheit schon von weitem ansehen. Er war viel zu sehr Wirt mit Leib und Seele, um ein Geheimnis für sich behalten zu können, sogar mit einer Dolchspitze im Rücken.
    Zu dritt luden sie die Waren vom Karren und trugen sie durch den offenen Spalt des Tores. Mütterchen verfluchte die Tatsache, dass Löwenzahn mit seinen Bärenkräften nicht bei ihnen war, doch der Halbhunne hatte sich mit Geist in die Tiefen des Berges zurückgezogen, um ein verstopftes
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