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Der Zwergenkrieg

Der Zwergenkrieg

Titel: Der Zwergenkrieg
Autoren: Kai Meyer
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jede Seite, dann legte er Grimma seine schwere Hand auf die Schulter.
    »Einmal mehr hast du bewiesen, dass es eine richtige Entscheidung war, eine Frau zur Heerführerin zu bestimmen«, sagte er laut, und dabei blickte er streitlustig in den Kreis seiner Berater. Sie alle hatten die Nasen gerümpft, als er Grimma den Posten angeboten hatte. Zwerge leben lange, zweihundert Jahre und mehr, und sie vergessen kaum etwas, und der Disput mit seinen Ratgebern war Thorhâl so frisch im Gedächtnis, als hätte er erst am Tag zuvor stattgefunden.
    Grimma mochte es nicht, wenn der König auf ihr Geschlecht anspielte, ganz gleich wie wohlmeinend. »Erst der Kampf macht Krieger aus uns, und fortan ist es ohne Bedeutung, ob wir von Natur aus Kinder oder dumme Ideen gebären.«
    Die Zwergenratgeber in ihren langen Roben zuckten merklich, doch Thorhâl brüllte vor Lachen, umarmte Grimma, wie er jeden seiner männlichen Heerführer umarmt hätte, und zog sie dann von den anderen fort.
    »Ich brauche deinen Rat, Grimma«, sagte er, als die übrigen Zwerge außer Hörweite waren. »Die Nordlinge sind geschlagen, aber ich glaube, unser Kampf mit ihnen ist noch lange nicht am Ende.«
    »Ihr fürchtet, es könnten noch mehr von ihnen hierherkommen?« Grimma war nicht überrascht. Ein jeder hegte diese Angst, und die kommenden Tage würden zeigen, ob sich etwas gegen diese Gefahr unternehmen ließ.
    »Es wird zu weiteren Kämpfen kommen«, sagte Thorhâl, »aber nicht hier im Hohlen Berg.«
    »Was habt Ihr vor?« Eine Ahnung beschlich sie, es war jedoch kein Gedanke, bei dem sie länger als nur einen Augenblick verweilen wollte.
    Der König nahm Grimma beim Arm und wanderte einige Schritte mit ihr in einen verlassenen Minenstollen, der von dem breiten Hauptschacht fortführte, in dem die entscheidende Schlacht stattgefunden hatte. Grimma schätzte solche Vertrautheiten nicht; sie fürchtete, sie könnten Thorhâls listige Ratgeber zu ein paar lästigen Gerüchten ermuntern.
    »Seit wie vielen Jahren sind wir nun schon dem Nibelungengeschlecht zur Treue verpflichtet, Grimma? Seit vierhundert, vielleicht fünfhundert?« Es war keine Frage, auf die er eine Antwort erwartete. Als die Nibelungenfürsten sich die Zwerge vom Hohlen Berg untertan gemacht hatten, hatten sie zugleich jegliche Geschichtsschreibung des Zwergenvolkes ausgelöscht. Obwohl seither erst wenige Generationen vergangen waren, gab es längst mehrere Fassungen derselben Geschichte. Was hatte Thorhâls Vorgänger wirklich dazu bewogen, sich dem damaligen Fürsten der Nibelungen unterzuordnen? War es ein Duell gewesen, in dem der Zwergenkönig dem Fürsten Nibelung – dem ersten einer ganzen Reihe von Herrschern dieses Namens – unterlegen war? Oder war der Grund vielmehr eine misslungene Wette, wie einige behaupteten? Oder aber, und das schien manchem die wahrscheinlichste, wenn auch beschämendste Möglichkeit, hatte der Zwergenherrscher dem Fürsten diesen Pakt vorgeschlagen, um als Preis dafür eine Nacht mit Nibelungs schöner Tochter zu verbringen? Für gewöhnlich fanden Zwerge nichts an den großen, dürren Menschenweibern, doch die enge Freundschaft des alten Königs zu den Menschen war bekannt und hatte manchen Anlass für Vermutungen gegeben.
    Was immer auch die wahre Ursache für die Bindung der Zwerge vom Hohlen Berg an die Nachfahren des Fürsten Nibelung war, so waren die Beziehungen zwischen beiden doch in all den Jahrhunderten niemals offen in Frage gestellt worden. Zwerge standen zu ihrem Wort, auch zu dem ihrer Urahnen, und so schürfte das Volk vom Hohlen Berg auch heute noch Tag für Tag in den Tiefen der alten Minen nach Gold und Silber, um daraus für Nibelungs Kinder und Kindeskinder den prachtvollsten aller Schätze zu fertigen. Schon jetzt war der Hort, der in der tiefsten Halle des Berges aufbewahrt wurde, der größte und herrlichste, von dem die Schreiber und Weisen je gehört hatten. Und obgleich die Nibelungen die Zwerge niemals wie Sklaven oder Leibeigene behandelt hatten, so gab es doch keinen Zweifel, dass sie in Wahrheit genau das waren – willige Arbeiter, die mit jedem Tag den Reichtum der Nachfahren Nibelungs mehrten.
    Gewiss, im Geheimen hatte es gelegentlich Pläne für eine Rebellion gegeben, für friedlichen, aber auch bewaffneten Widerstand, doch keines dieser Vorhaben war je in die Tat umgesetzt worden. Das Wort des einstigen Königs galt, auch heute noch, und selbst kommende Generationen würden sich daran halten müssen.
    Als
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