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Der zweite Gral

Der zweite Gral

Titel: Der zweite Gral
Autoren: Boris von Smercek
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danach noch immer keine Namen nannte, hatte man ihr mit der so genannten petite guillotine, einer Miniaturausgabe der normalen Guillotine, beide Daumenkuppen abgehackt.
    Die Frau hatte Lara erzählt, auch ihr Mann und ihre beiden Söhne seien verhaftet worden, aber sie wusste nicht, was mit ihnen geschehen war. Sie hatte sie seit damals nicht mehr gesehen.
    Lara fragte sich, wie Verstümmelungen und Vergewaltigungen regime- und islamkonform sein konnten. Hinter diesen Mauern galten offenbar andere Regeln.
    Sie beschäftigte sich auch mit der Frage, welche Strafen die Wärter sich für sie, Lara, einfallen ließen. Geschlagen hatte man sie bereits. Vermutlich würde es nicht mehr lange dauern, bis man sich auch an ihr sexuell verging.
    Doch so weit wollte sie es nicht kommen lassen. Den ersten Schritt ihres Befreiungsplans hatte sie vor kaum einer Stunde in die Tat umgesetzt, als sie dem Gefängnisvorsteher zur Befragung vorgeführt worden war. Trotz der Fesseln hatte sie sich von den beiden Wärtern, die sie gepackt hielten, losreißen können. Daraufhin war ein kurzes, wildes Handgemenge entbrannt, das Lara genutzt hatte, sich auf den Schreibtisch des völlig überraschten Vorstehers zu werfen. Diese Dreistigkeit hatte ihr Blutergüsse und eine aufgeplatzte Lippe eingebracht – aber auch eine Büroklammer. Lara hatte sie unter der Zunge unbemerkt aus dem Zimmer schmuggeln können.
    Jetzt fragte sie sich, ob eine Büroklammer ausreichen würde, um aus diesem Gefängnis zu entkommen. Leicht würde es nicht werden, aber sie musste es versuchen.

6.
    N ach dem Bad fühlte Emmet Walsh sich erholt, doch er wusste, dass der Schlafmangel der letzten zwei Tage ihn bald wieder einholen würde. Er griff zum Telefon, das auf seinem Nachttisch stand, und bat den Zimmerservice, ihn zum Abendessen zu wecken.
    Da er im Okawango-Becken von der Außenwelt abgeschnitten gewesen war, beschloss er, vor dem Zubettgehen seine E-Mails abzufragen. Er packte seinen Laptop aus, verkabelte ihn mit dem Zimmeranschluss und startete sein Postoffice-Programm.
    Es gab nur zwei neue Nachrichten.
    Die erste stammte von Donna Greenwood, seiner Stellvertreterin und rechten Hand. Wie immer, wenn Emmet ihren Namen las oder ihn am Telefon hörte, überkam ihn ein Gefühl der Unsicherheit. Er kannte Donna bereits seit einer Ewigkeit, und obwohl er es ihr nie zu sagen gewagt hatte, empfand er so etwas wie Zuneigung für sie. Nein, mehr noch – Liebe.
    Eigenartig, dachte er, wie man ein halbes Leben lang vor seinen Gefühlen davonlaufen kann, nur um der Gefahr einer Enttäuschung aus dem Weg zu gehen. Aber je länger man wartet, desto schwieriger wird es. Und irgendwann ist es dann unmöglich.
    Vor seinem geistigen Auge erschien Donnas Antlitz. Ihr lockiges, mittlerweile grau-blondes Haar. Die großen, warmen Augen. Die hübsche Nase, von der die goldumrandete Bifokalbrille nicht mehr wegzudenken war. Die noch immer vollen, geschwungenen Lippen. Trotz ihrer 51 Jahre wirkte Donna ausgesprochen jugendlich.
    Emmet Walsh schob den Gedanken an seine unerfüllte, weil nicht existierende Beziehung zu Donna Greenwood beiseite und las ihre E-Mail. Sie schrieb, dass sie alle Vorbereitungen für die Sitzung in Leighley Castle am kommenden Samstag getroffen habe. Bis auf zwei hatten sämtliche Teilnehmer den Termin bestätigt. Aber sie sei sicher, dass auch Anthony Nangala und Lara Mosehni sich melden würden.
    Emmet lächelte. Donna war ein Organisationstalent. Es gab keine Aufgabe, die sie nicht schnell und zuverlässig erledigte. Ohne sie wäre er verloren gewesen.
    Die zweite Nachricht war von vorgestern und stammte von Anthony Nangala, was Emmet verwirrte. Außerdem verspürte er einen Anflug von Zorn. Anthony wusste doch, dass er mit Emmet nicht in Verbindung treten sollte! Das durfte niemand bis auf Donna Greenwood.
    Anthony Nangala hatte gegen die Regeln verstoßen.
    Doch der Zorn verflog, als Emmet klar wurde, dass der Schwarze einen triftigen Grund für seine Nachricht haben musste. Einen zwingenden Grund. Mit ungutem Gefühl öffnete Emmet die E-Mail.
    Anthony Nangala bat um schnellstmöglichen Rückruf in seinem New Yorker Apartment. Falls Emmet ihn nicht erreiche, solle er eine Nachricht auf Band hinterlassen; er, Nangala, höre den Anrufbeantworter stündlich ab und werde sich dann bei ihm melden.
    Emmet Walsh öffnete eine Datei mit Telefonnummern, griff nach dem Hörer und wählte. Am anderen Ende der Leitung lief eine Bandansage an. Nach dem Pfeifton
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