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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch
Autoren: Emile Zola
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einem Feste geschmückt; eine Riesenmenge erfüllte die wiedereroberten Straßen; überall gingen Spaziergänger mit glücklicher Bummelmiene umher, um die rauchenden Trümmer der Brandstätten zu besichtigen; Mütter hielten lachende Kinder an der Hand, sie blieben stehen und hörten einen Augenblick aufmerksam auf die dumpf von der Lobaukaserne herübertönenden Gewehrschüsse.
    Als Jean am Sonntag abend bei abnehmendem Tageslichte die dunkle Treppe in der Rue des Orties heraufkam, schnürte ihm ein schauerliches Vorgefühl das Herz zusammen. Er trat ein und sah sogleich das unvermeidliche Ende; Maurice lag tot auf dem kleinen Bette; der von Bouroche vorhergesagte Blutsturz hatte ihn erstickt. Rot glitt der Schein der scheidenden Sonne durch das offene Fenster herein; auf dem Tischchenam Kopfende des Bettes brannten bereits zwei Kerzen. Henriette lag in ihren Witwenkleidern, die sie noch nicht ausgezogen hatte, auf den Knien und weinte stumm vor sich hin.
    Bei dem Geräusche von Jeans Eintritt hob sie den Kopf und schauderte zusammen, als sie ihn erblickte. Er wollte ganz vernichtet niederstürzen und ihre beide Händen ergreifen, um durch diesen Druck seinen Schmerz mit dem ihrigen zu vereinen. Aber er fühlte, wie ihre kleinen Hände zitterten, wie sich ihr ganzes Wesen schaudernd und voller Abscheu von ihm abwandte, wie sie sich ihm auf ewig entzog. War jetzt nicht alles zwischen ihnen aus? Maurices Grab trennte sie wie eine bodenlose Kluft. Und so konnte auch er nur auf die Knie fallen und ganz leise vor sich hinschluchzen.
    Nachdem das Schweigen einige Zeit gedauert hatte, sprach Henriette jedoch zu ihm.
    »Ich wandte ihm den Rücken und hielt eine Tasse Brühe, als er mit einemmal einen Schrei ausstieß... Ich konnte nur gerade noch hinstürzen, und er starb, er rief nach mir und er rief nach Ihnen, nach Ihnen auch, wahrend das Blut hervorquoll.«
    Ihr Bruder, mein Gott! Ihr Maurice, den sie schon von Geburt an geliebt hatte, der ihr anderes Selbst war, den sie erzogen, errettet hatte! Ihre einzige Liebe, seitdem sie dort in Bazeilles den Körper ihres armen Weiß von Kugeln durchbohrt an der Mauer hatte liegen sehen! So wollte der Krieg ihr also das Herz ganz ausreißen; sie sollte allein m der Welt stehenbleiben, als Witwe ohne jeden Anhalt, ohne irgendein Wesen, das sie liebte.
    »Ah, gut Blut!« schrie Jean schluchzend auf, »meine Schuld ist es! Mein lieber Junge, so gern hätte ich meine Haut hingegeben, und nun habe ich ihn wie ein Vieh hingemordet!...Was soll nun aus uns werden? Können Sie mir je verzeihen?«
    Ihre Augen trafen sich in diesem Augenblicke, und sie blieben ganz niedergeschmettert von dem stehen, was sie endlich ganz klar darin lesen konnten. Die Vergangenheit stand wieder auf vor ihnen, die einsame Kammer in Remilly, in der sie so traurige und doch so süße Tage verlebt hatten. Er hatte, zunächst unbewußt, dann ganz klar bestimmt seinen alten Traum wieder aufgenommen: das Leben dort unten, ihre Ehe, ein kleines Haus, Ackerboden, genug, um einen Haushalt genügsamer Leute zu ernähren. Jetzt war das zu einem brennenden Wunsche geworden, zu klarer Gewißheit, daß mit einer so zarten, so tätigen, so braven Frau das Leben zu einem wahren Dasein im Paradiese werden müsse. Und sie, die in der keuschen, unbewußten Hingabe ihres Herzens bisher von diesem Traume kaum berührt worden war, sah dies alles jetzt ganz klar, begriff alles mit einem Schlage. Diese ihr so fern liegende Ehe hatte sie selbst auch gewollt, ohne es zu wissen. Das keimende Korn war leise seinen Weg gewandert; sie liebte ihn innig, diesen Mann, dessen Gegenwart sie zuerst nur mit Trost erfüllt hatte. Und ihre Blicke sagten sich das; sie sprachen jetzt nur deshalb ihre Liebe offen aus, weil es ein ewiges Lebewohl galt. Auch dies schreckliche Opfer war noch notwendig, dies letzte Herausreißen; ihr Glück, das ihnen gestern noch erreichbar schien, mußte heute mit allem übrigen in Trümmer gehen, mußte mit dem Blutstrome, der ihren Bruder dahinriß, mit fortströmen.
    Jean erhob sich mit einer langen, mühevollen Anstrengung von den Knien.
    »Leben Sie wohl!«
    Henriette lag regungslos auf den Fliesen.
    »Leben Sie wohl!«
    Aber Jean war an Maurices Leiche herangetreten. Er blickte ihn an mit seiner hohen Stirn, die jetzt noch höher aussah, mit dem langen, feinen Gesicht, den leeren, früher etwas närrisch blickenden Augen, in denen jetzt alle Narrheit erloschen war. Er hätte ihn gern geküßt, seinen lieben
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