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Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Titel: Der zugeteilte Rentner (German Edition)
Autoren: Ralf Schulte
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erreichten. Es war kurz vor eins. Genug Zeit noch, das Missverständnis aufzuklären und den alten Mann loszuwerden. Schließlich wollte sie noch aufräumen, bevor Finn am Wochenende einzog.

Der Eingang wirkte freundlich. Große Glastüren, die blitzschnell und geräuschlos auf- und zuschwangen – auch wenn keiner rein oder raus ging; wie bei Raumschiff Enterprise. Ein kleiner Springbrunnen stand ebenfalls im Eingangsbereich. Eigentlich war es eher eine Skulptur, die wie der Glöckner von Notre Dame aussah. Aus seinen abstrakten Taschen plätscherte das Wasser, aus seinen abstrakten Ohren quoll es heraus und um seinen abstrakten Bauch versammelte es sich, um die Reise wieder von vorne zu beginnen.
Als Clara und Maximilian das Haus betraten, änderte sich der Eindruck. Die Flure waren grau-beige mit einem dezenten warmen Grauton, überlagert von einem gelblichen 60er-Jahre-Schleier. Clara gefiel es hier, was aber vielmehr am Geruch lag. Der Duft einer tödlichen Sauberkeit schwebte um sie herum, bereit, alle Bakterien zu vernichten. Welches Mittel das wohl war? Sie spürte den ätzenden Effekt in ihrer Nase. So was überlebte keine Bakterie.
Für einen Augenblick standen sie in der Gegend herum und suchten nach Hinweisen, was wo zu finden sei. Eine alte Tafel mit allerlei aufgespickten Buchstaben wies ihnen schließlich den Weg: „REN E AUSKÜ TE ZI. 0 0-039 EG“ Oder sollten sie lieber zu „RE NTEN USK NF ZI. 040-079 1. S CK“ gehen? Direkt daneben hing ein roter Zettel: „Melden Sie auffällige Gepäckstücke bitte sofort der Polizei!“
Da es hier weder eine Information, noch einen Empfang gab, einigten sie sich darauf, ihre Suche im Erdgeschoss anzufangen – immer wachsam für auffällige Gepäckstücke.
Doch sie waren nicht die einzigen, die Hilfe und Auskunft suchten. Viele alte Menschen bevölkerten den Flur: auf Stühlen, auf dem Boden, auf Koffern, Kisten und Camping-Stühlen saßen und warteten sie. Nur ein paar vereinzelte Leuchtstoffröhren erhellten die Gänge, machten aus den Menschen Schatten, Umrisse, die mit dem Grau der Umgebung verschmolzen.
Hin und wieder öffnete sich eine Tür im Flur. Ein Lichtstrahl durchbrach die Dunkelheit. Eine junge Frau rannte heraus und verschwand sogleich im nächsten Zimmer. Dann folgte ein älterer Mann, quer über den Gang, stolperte über eine alte Frau und ging durch eine Tür in einen Raum, der als „Kaffee-Zimmer“ gekennzeichnet war. Sobald eine der Türen aufging, streunten die Wartenden um das Zimmer und blickten mit großen Augen herein wie Kinder an Weihnachten. Obwohl drinnen nichts Besonderes passierte, schauten sie jedes Mal, als ob sie eine Veränderung entdecken könnten. Meist folgte ein „Sie sind noch nicht dran!“, dann ging die Tür wie von alleine zu. Kein Christkind, kein Weihnachtsmann.
Wieder Düsternis. Minuten später erschien der nächste Beamte mit einer Liste in der Hand. Er rief: „H-e 217, K-l 311, N-o 345, R-a 222, Z-u 97!“ Sofort richteten sich ein paar Alte auf, standen sich kurz im Weg und liefen dann in getrennte Richtungen. Nacheinander verschwanden sie hinter irgendwelchen Türen. Ein paar Stimmen erklangen, dann Stille.
„Sollen wir uns eine Wartenummer für J wie Januszewski oder für H wie Himmel ziehen?“
Maximilian zuckte mit den Schultern. „Wie Sie möchten, Sie können auch beides.“
„Dann gehen wir erst mal zu H. Da stehen weniger an.“
„Ich hätte J gewählt!“
„Na, gut! Dann: J!“
„Aber bei H stehen weniger an!“
„Himmel! Entscheiden Sie sich!“
„Dann: H!“
Tatsächlich wartete hier nur eine alte Frau, die ihre Einkäufe mit beiden Händen umklammerte. Eine ihrer Plastiktüten war undicht. Etwas, das wie Eis aussah, tropfte heraus und sammelte sich auf dem grünen Flurboden. Die Frau blickte Clara an. Ihre Augen glänzten. Die Plastiktaschen zogen die Frau mit ihrem Inhalt nach unten, machten die Arme länger als sie waren. Die Hände so blau, das Plastik schnitt in die Hautfalten. Dicke Wurmadern krochen und zuckten über ihren Handrücken. Weiße Haare richteten sich auf. Ein leichter Saum auf ihrer Oberlippe, ein eckiger Zahn zwischen den dünnen Lippen.
Für einen kurzen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Obwohl die alte Frau nichts sagte, konnte Clara förmlich ihre Gedanken lesen: „Bald bist auch du dran.“
Das extreme Gegenteil saß neben dieser Frau. Ein alter Mann mit großen Augen. Er wirkte abwesend, schaukelte ein bisschen von links nach rechts und anschließend nach
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