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Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Titel: Der zugeteilte Rentner (German Edition)
Autoren: Ralf Schulte
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klasse aussah ¬– eben ein kleiner Rubens. Die Skepsis ergab sich erst mit dem Wort „eigentlich“. Nach Sex mit ihrem Freund Finn hüpfte sie meistens vor dem Spiegel auf und ab. Sie fühlte sich gut, schließlich stellte sie ihm meist die Frage, bei der sie mit einer netten Antwort rechnete: „Findest du mich dick?“
Die ersten Reaktionen auf diese Frage: ein verzerrtes Gesicht, aufgerissene Augen, ein Blick zur Seite, dann gar nichts. Mindestens eine Minute Schweigen. Sechzig lange Sekunden nichts als ein unverständliches Brummen. Dann folgte ein: „Eigentlich nicht!“
Es war dieses „eigentlich“. Klein und niedlich platzierte es sich in die Kommunikation der Mitmenschen und bildete ein Hintertürchen, durch das man sich leicht hinaus winden konnte. „Bist du satt? Eigentlich nicht! Willst du verreisen? Eigentlich nicht!“ Es bedeutete einfach: „Nein, aber jetzt wo du es sagst, sollte ich meine Meinung vielleicht ändern. Es ist gut, dass du mich darauf hinweist. Allein wäre mir das nie aufgefallen. Vielen Dank!“
Finn fand sie dick. Und es brannte sich in ihre Haut. Jedes Mal, wenn sie ihre Hüften, den Bauch oder die Beine betrachtete, sah sie das Brandzeichen: Fett! Fett, das sich rollt. Fett, das hängt. Fett, das schwingt. Fett, das sich wölbt. Dabei gehörte er selbst nicht zu den dünnen und sportlichen Typen. Überall an seinem Körper hingen kleine, wenn auch niedliche, Speckfalten. Nur sein Bauch bekam immer mehr die Form eines Fußballs. Aber darüber mochte er nicht sprechen, er brummte dann Unverständliches und wandelte sich zu einer lebenden Brennesel. Clara wusste, dass er heimlich in eine Diät-Selbsthilfegruppe ging, um sich dort Rat zu holen – nur darauf ansprechen, durfte sie ihn nicht.
Finn war kein leichter Fall. Des Öfteren ärgerte sie sich über ihn. Aber trotz allen Schwierigkeiten liebte sie ihn. Am Wochenende wollten sie sogar zusammenziehen – extra hierfür räumte sie ein Regal leer. Und wenn er sie wieder ärgerte, gab es eben das Notprogramm: Sie schlüpfte in ihren Jogging-Anzug, in dem sie wie eine DDR-Sportlerin aussah, zog sich Socken Größe XXL an, postierte ihre Kuscheltiere, machte eine Flasche Rotwein sowie eine Tüte Chips auf und setzte sich ans Fenster. Ihr Nachbar gegenüber machte in seinem Wohnzimmer jeden Abend Sport. Nichts Außergewöhnliches, sah man von der Tatsache ab, dass er dies nackt ausübte. Und da er wie der Coca-Cola-Light-Mann aussah, wollte sie keine Folge von „Nackt am Fenster“ verpassen. Vor allem die Springseil-Übungen liebte sie – wenn sich dabei alles so schön drehte und hüpfte und drehte und hüpfte. Manchmal lud sie auch ihre Freundin Zoe ein. Doch diese stand mehr auf Rumpfbeugen.
Wenn selbst das ihre Stimmung nicht verbesserte, setzte sie sich vor ihren riesigen Spiegel und suchte nach abstehenden Härchen. Fand sie eins, nahm sie eine Pinzette und rupfte es mit einem wohlklingenden und langen Seufzer heraus. Ansonsten fand sie sich sehr umgänglich, menschlich-kompetent. Sie randalierte nicht, hörte keine laute Musik und tat auch sonst nichts, was ihre Nachbarn gegen sie aufbrachte. „Die Frau Januszewski, des is ja so ein guter Mensch!“, sagten immer die Nachbarn. Und das erfüllte sie mit Stolz; schließlich gab es nur wenige in diesem Haus, die dieses Prädikat erhielten.
Claras Ärzte waren da ganz anderer Meinung. Als Medizin-Studentin endete man meist als Hypochonder: „Ich hab da so ein Jucken, könnte es Neurodermitis sein?“ Oder: „Könnten sie mich noch einmal röntgen, ich glaube, an der Aorta haben sie was übersehen.“
Es klingelte wieder. Hoffentlich nicht die Nachbarn von Gegenüber, die den ganzen Tag lärmten. Manchmal kamen sie zu ihr, wenn sie Zigaretten brauchten oder einen Euro, um sich welche zu kaufen. Da diese Nachbarn nie auszogen, wurden es immer mehr, entsprechend oft klingelte es. Außerdem schreiten, kreischten und ab und zu hämmerten sie mit Kochtöpfen gegen die Wände. Clara wäre dann am liebsten rüber gegangen und hätte ihre Köpfe so lange zusammen geschlagen, bis endlich Ruhe einkehrte.
Es klingelte wieder. Diesmal marschierte sie zur Tür, blickte durch den Türspion und stellte fest, dass dieses Gesicht nicht ihren Nachbarn gehörte – Maximilian Himmel stand davor.
„Was soll das? Gehen Sie endlich!“
„Und wohin, bitte schön?“, brummte der Rentner. „Ich soll doch bei ihnen wohnen!“
„Ich habe Ihnen doch gesagt, das geht nicht!“
Clara lief
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