Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zimmerspringbrunnen

Der Zimmerspringbrunnen

Titel: Der Zimmerspringbrunnen
Autoren: Jens Sparschuh
Vom Netzwerk:
wäre 45 der Kampf um Berlin vor allem um dieses Haus geführt worden … Aber, immerhin: zwei Zimmer, Küche und (Luxus!) sogar ein schlauchartiges, immer eiskaltes Bad. Die Zimmer nach Norden. Wenn die Sonne schien, sah man das in den Nachrichten oder an den Schatten der Tauben auf der Hauswand gegenüber. (Doch das sahen wir erst später.) Dafür, als Mittelwohnung, von allen Seiten schön eingebaut. Sicher schön warm im Winter, dachten wir. Sicher. – Aber eben auch schön laut. Im Frühling. Im Sommer. Im Herbst. Und im Winter.
    Ich erinnere mich noch an den ersten Abend. Erst dachten wir: wenn erst mal die Teppiche liegen, wird sich das schon geben – die Stimmen, die Musik … Es mußteja. Schließlich waren wir mit dieser Wohnung, wie es wohnungsamtlich hieß, »endversorgt«.
    Die Nachbarin links, tagsüber eine unscheinbare Kassiererin in einer Kaufhalle, entpuppte sich nachts als Grösster Peter-Maffay-Fan aller Zeiten – und eben dieses Hauses. Eine besondere Einlage jedesmal, wenn sie um Mitternacht in ein Mikrophon sprach, die Lautsprecher angeschlossen: »Ich bin Marina, jawohl, und alle denken, ich bin bloß Kassiererin. Aber … ihr wißt nichts, nichts wißt ihr …« usw. Ergriffen im Bett liegen, die Arme unterm Kopf verschränkt, und jemand erzählte uns seine Lebensgeschichte durch die Wand. (Einmal, früh um halb fünf, klingelte bei uns dieser junge Mann, der wie Peter Maffay aussah, es aber nicht war, und fragte: »Wo ist Marina?«)
    Die Bäckerfamilie rechts unten. Die hatte ihren akustischen Kulminationspunkt kurz vor halb zwei Uhr nachts, bevor der Mann zur Arbeit und die Frau ins Bett ging: diese endlos quiekenden Kicherkaskaden (was trieben die da?) für alle Ewigkeiten ins Gedächtnis eingebrannt.
    Die ältere Dame rechts, um ihre Altersschwerhörigkeit beneidet, griff nur vormittags kurzzeitig ins akustische Geschehen ein und steuerte das gemeinsame Vormittagsprogramm von ARD und ZDF bei. Zum unbestrittenen Höhepunkt der Woche geriet aber erst der Freitagabend: Freddy, in der Wohnung links unter uns! Nach der geistigen Notversorgung mit dem Freitagabendfernsehprogramm meldeten sich regelmäßig auch die körperlichen Bedürfnisse zu Wort: »Wer von euch Bastarde hat meine Hackepeterschrippe jefressen?« Diese Frage löste wilde Verfolgungsjagden durch die Wohnung aus. Langwierige Verhandlungen durch zugesperrte, mit Füßen traktierte Türen, leider immer nur zur Hälfte verstehbar.Ein demonstratives: »Ha! Ha! Det ick nich lache«, oder einfach, als Vorschlag zur Güte: »Ick zähle bis drei, wenn denn nich off ist, schlag ick dir dot«. Flaschenklirren, Geschrei, gegen zwei oder drei dann der zum Himmel beziehungsweise zur Stubendecke ausgestoßene Kriegsruf: »Warte, gleich kloppt Lobek.« Das war das Zeichen, mein Einsatz! Vom Bett aus, mit dem Schuh, ein mattes Lebenszeichen … Prompt die Bestätigung von unten: »Siehste, jetzt kloppt der Bekloppte!« Nach langen Kämpfen – das erste gemeinsame, verbrüderte Lachen unterm Teppich.
    Im Halbschlaf kreisten damals meine Gedanken um eine Maschine, die so konstruiert sein müßte, daß sie auf jedes ankommende Geräusch ein adäquates Gegengeräusch aussenden würde, so daß infolge der Überlagerung der Schallwellen absolute Stille entstünde …
    Lange, lange her. Und ich hatte es schon fast vergessen. Die Erinnerung daran kam erst wieder, als die endlosen Tage begannen, die ich von morgens bis abends in unserer Neubauwohnung absaß, ich immer wieder die Mieterhöhungsbescheide las und ich mir vorzustellen begann, wie das wäre, eines Tages wieder zu Freddy & Co, zurück in die Bruchbude, zu müssen. Vor allem nachts schreckte ich davon hoch. Da ging mir überhaupt alles mögliche durch den Kopf. Deshalb, noch heute, mein Motto, wenn ich abends ins Bett krieche und es wird Nacht: Augen zu – und durch!
    Alle meine Versuche, draußen, im feindlichen Leben, wieder Fuß zu fassen, waren bis dahin ja erfolglos geblieben. Einziger Erfolg: Ich wurde immer schweigsamer. Es gab ja auch nichts zu erzählen! Tagsüber, wenn Julia im Büro war, hatte ich mich bei verschiedenen Firmen telefonisch auf Stellenangebote hin gemeldet. Nach einerWeile aber, es genügte ja schon, daß ich auf Nachfrage mein Alter angab, hatte ich das Gefühl, einfach abgehängt zu werden.
    Ich saß dann da, Telefonhörer in der Hand, ein Rauschen im Ohr – und ich sprach einfach weiter, erklärte dem Gegenüber, das längst aufgelegt hatte, daß
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher