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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten
Autoren: Ian McEwan
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Schule nächste Woche?« Sie schüttelte den Kopf.
    »Und du?«
    »Nein.« Wir drückten einander an die Brust, und unsere Arme und Beine verknäuelten sich so, daß wir seitlich aufs Bett kippten. Wir lagen mit den Armen um den Nacken des andern, die Gesichter dicht beieinander. Lange sprachen wir über uns.
    »Es ist komisch«, sagte Julie, »aber ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Es kommt mir vor, als wäre es immer so gewesen. Ich weiß eigentlich gar nicht mehr, wie es war, als Mammi noch lebte, und ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend etwas anders wird. Alles scheint mir ruhig und fest und gibt mir das Gefühl, daß ich vor nichts Angst haben muß.«
    Ich sagte, »Außer, wenn ich in den Keller gehe, ist mir, als ob ich schlafe. Es gehen ganze Wochen vorbei, ohne daß ich es merke, und wenn du mich fragst, was vor drei Tagen war, weiß ich es nicht.« Wir redeten über den Abbruch weiter unten an der Straße, und wie es wäre, wenn unser Haus eingerissen würde.
    »Jemand würde herumstöbern«, sagte ich, »und nichts als ein paar zerbrochene Ziegelsteine im hohen Gras finden.« Julie schloß die Augen und legte mir das Bein über die Hüfte. Ein Teil von meinem Arm lag auf ihrer Brust und darunter konnte ich das Pochen ihres Herzens spüren.
    »Es wäre nichts dabei«, murmelte sie, »oder?«
    Sie schlüpfte weiter das Bett herauf, bis ihre großen blassen Brüste auf der gleichen Höhe wie mein Gesicht waren. Ich berührte eine Brustwarze mit der äußersten Spitze meines Fingers. Sie war hart und runzlig wie ein Pfirsichkern. Julie nahm sie zwischen die Finger und knetete sie. Dann schob sie sie mir an die Lippen.
    »Nur zu«, flüsterte sie. Ich fühlte mich gewichtslos durch das All purzeln, ohne jeden Sinn für oben oder unten. Wie ich die Lippen um Julies Brustwarze schloß, lief ein leichter Schauer durch ihren Leib und eine Stimme vom andern Ende des Zimmers her sagte bedrückt, »Jetzt habe ich genug gesehen.«
    Sofort versuchte ich mich loszumachen. Aber Julie hatte die Arme noch um meinen Hals und hielt mich noch fester. Ihr
    Körper schirmte mich gegen Derek ab. Auf einen Ellbogen gestützt drehte sie sich und sah ihn an.
    »Wirklich?« sagte sie milde. »Du meine Güte.« Aber ihr Herz, nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt, hämmerte laut. Derek sprach wieder und klang diesmal viel näher.
    »Wie lange geht das schon so?« Ich war froh, daß ich ihn nicht sehen konnte.
    »Schon ewig«, sagte Julie, »ewig und ewig.« Derek machte einen kleinen Laut der Überraschung oder des Ärgers. Ich stellte mir vor, daß er still und aufrecht dastand, die Hände in den Taschen. Diesmal war seine Stimme belegt und schwankend.
    »All die Male. und du hast mich nie auch nur in die Nähe gelassen.« Er räusperte sich geräuschvoll und es entstand eine kurze Stille. »Warum hast du mir nichts davon gesagt?« Ich spürte, wie Julie die Achseln zuckte. Dann sagte sie, »Eigentlich geht dich das nichts an.«
    »Wenn du mir was gesagt hättest«, sagte Derek, »hätte ich mich dünngemacht und euch euch selbst überlassen.«
    »Typisch!« sagte Julie. »Das ist typisch.« Derek war jetzt zornig. Seine Stimme zog sich durchs Zimmer zurück.
    »Widerlich ist das«, sagte er laut, »er ist dein Bruder.«
    »Sprich leiser, Derek«, sagte Julie mit fester Stimme, »sonst weckst du Tom.«
    »Widerlich!« wiederholte Derek und die Zimmertür knallte zu.
    Julie sprang vom Bett, sperrte die Tür zu und lehnte sich dagegen. Wir horchten auf das Startgeräusch von Dereks Wagen, aber bis auf Toms Atem war alles sehr still. Julie lächelte mir zu. Sie ging zum Fenster und zog die Vorhänge etwas auseinander. Derek war so kurz im Zimmer gewesen, daß er uns jetzt wie eine Einbildung vorkam.
    »Wahrscheinlich unten«, sagte Julie und ließ sich wieder neben mir nieder, »wahrscheinlich jammert er Sue was vor.« Wir blieben ein oder zwei Minuten still und warteten, bis sich der Klang von Dereks Stimme verloren hatte. Dann legte mir Julie die Hand auf den Bauch. »Schau, wie weiß du bist«, sagte sie, »gegen meine Hand.« Ich nahm ihre Hand und maß sie mit meiner. Sie war genau gleich groß. Wir setzten uns auf und verglichen unsere Handlinien, und die waren ganz verschieden. Wir begannen eine langwierige gegenseitige Untersuchung unserer Körper. Nebeneinander auf dem Rücken liegend, verglichen wir unsere Füße. Ihre Zehen waren länger und schlanker. Wir maßen unsere Arme, Beine, Hälse und Zungen, aber nichts
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