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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten
Autoren: Ian McEwan
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um das Fenster zuzumachen, und plötzlich erinnerte ich mich, daß meine Mutter vor langer Zeit gestorben war. Sofort fiel mir alles wieder ein, und ich legte mich zitternd hin und horchte. Das Weinen war leise und stetig wie ein Stöhnen und kam aus dem Zimmer nebenan. Es hatte etwas Beruhigendes, und eine Weile achtete ich nur auf das Geräusch. Ich war nicht weiter neugierig. Ich hörte auf zu zittern, schloß die Augen, und sofort, als hätte eine Filmvorführung abgewartet, bis ich mich richtig hingesetzt hatte, sah ich eine Reihe deutlicher Bilder. Ich öffnete kurz die Augen und sah dieselben Bilder wie in die Dunkelheit projiziert. Ich überlegte, warum ich so viel schlafen mußte. Ich sah einen überfüllten Strand an einem sehr heißen Nachmittag. Es war Zeit zum Heimgehen. Meine Mutter und mein Vater liefen vor mir und trugen Liegestühle und ein Bündel Handtücher. Ich konnte nicht Schritt halten. Die großen runden Kiesel taten mir an den Füßen weh. In meiner Hand war ein Stecken mit einem Windrad. Ich weinte, weil ich müde war und getragen werden wollte. Meine Eltern blieben stehen und warteten auf mich, aber als ich bis auf ein paar Schritte bei ihnen war, drehten sie sich um und gingen weiter. Aus meinem Weinen wurde ein langgedehntes Heulen, und andere Kinder hörten mit ihren Beschäftigungen auf und schauten zu mir her. Ich ließ das Windrad los, und als es jemand aufhob und mir hinhielt, schüttelte ich den Kopf und heulte noch lauter. Meine Mutter gab ihren Liegestuhl meinem Vater und kam auf mich zu. Als sie mich aufhob, blickte ich auf einmal über ihre Schulter hinweg ein Mädchen an, das mein Windrad hatte und mich anstarrte. Die Brise drehte die bunten Flügel, und ich wollte es unbedingt wiederhaben, aber das Mädchen war schon weit hinter uns, und jetzt waren wir auf dem Pflaster und die Schritte meiner Mutter hatten einen festen Takt. Ich weinte weiter, aber meine Mutter hörte anscheinend nichts.
    Diesmal machte ich die Augen auf und wurde ganz wach. Wegen der geschlossenen Fenster war mein kleines Zimmer heiß und ohne Luft. Tom weinte immer noch nebenan. Ich stand auf und taumelte schwindlig gegen den Schrank. Ich machte ihn auf und tastete nach meinen Kleidern. Die Glühbirne kollerte heraus und zerbrach auf dem Boden. Ich fluchte laut flüsternd. Ich fühlte mich von dem Dunkel und dem Luftmangel so erdrückt, daß ich nicht weitersuchte. Ich ging mit nach vorn gestreckten Armen und verkniffenem Gesicht auf die Tür zu. Ich blieb auf dem Treppenabsatz stehen, bis sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten. Drunten redeten Julie und Sue. Bei dem Geräusch von meiner Tür war Tom still geworden, aber jetzt fing er wieder an mit einer gezwungenen, unüberzeugenden Art von Weinen, das Julie nicht zur Kenntnis nehmen würde. Ihre Zimmertür stand offen und ich ging leise hinein. Das Zimmer war nur von einer sehr schwachen Birne erleuchtet, und Tom bemerkte mich anfangs nicht. Er hatte die Decke und die Laken ans Fußende seines Gitterbetts gestoßen, lag auf dem Rücken, nackt, und schaute zur Zimmerdecke. Er machte ein Geräusch wie dumpfes Singen. Manchmal vergaß er anscheinend, daß er weinte und wurde still, dann dachte er wieder daran und fing lauter von neuem an. Etwa fünf Minuten lang stand ich hinter ihm und hörte ihm zu. Den einen Arm hatte er dicht hinter den
    Kopf gelegt, mit der anderen Hand spielte er mit seinem Penis, den er zupfte und zwischen Zeigefinger und Daumen hin- und herrollte.
    »Wastn«, sagte ich. Tom legte den Kopf zurück und sah mich ohne Überraschung an. Dann kehrte sein Blick zur Zimmerdecke zurück und er fing von neuem zu weinen an. Ich lehnte mich über das eine Seitengitter und sagte barsch, »Was hast du denn? Warum hältst du nicht die Klappe?« Toms Weinen wurde sogleich zu einem wirklichen, glucksenden, Tränen tropften auf das Bettuch neben seinem Kopf. »Moment«, sagte ich und wollte die Gitterseite herunterlassen. In dem Dämmerlicht konnte ich nicht sehen, wie der Riegel aufzumachen war. Mein Bruder holte mit einem riesigen Atemzug Luft und schrie. Es war schwer, sich zu konzentrieren, ich schlug mit der Faust auf den Riegel ein, packte die senkrechten Stäbe und rüttelte daran, bis das ganze Bett wackelte. Tom fing an zu lachen, etwas gab nach und die Seite klappte herunter. Mit seiner Babystimme rief er, »Nochmal! Ich will, daß du das nochmal machst.« Ich setzte mich an dem einen Bettende auf den Haufen von Laken und Decken
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