Der Zeitdieb
Arme auszukugeln.
Von den verborgenen Zuschauern kam ein kollektives Seufzen.
» Déjà-fu !«
»Was?«, fragte Lobsang in die Matte. »Du hast gesagt, keiner der
Mönche wüsste über das Déjà-fu Bescheid!«
»Weil ich es ihnen nie beigebracht habe, deshalb!«, erwiderte Lu-Tze.
»Du hast versprochen, mir kein Leid zuzufügen. Oh, herzlichen Dank!
Gibst du auf?«
»Du hast mir nie gesagt, dass du dich damit auskennst!« Lu-Tzes harte Knie drückten an die geheimen Stellen und verwandelten Lobsangs
Arme in kraftlose Fleischklumpen.
»Ich bin alt, aber nicht blöd!«, rief Lu-Tze. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich einen solchen Trick preisgebe.«
»Das ist nicht fair…«
Lu-Tze beugte sich hinab, bis nur noch wenige Zentimeter seinen
Mund von Lobsangs Ohr trennten.
»Von ›fair‹ stand nichts auf der Packung, Junge. Aber du kannst nach wie vor gewinnen, das weißt du. Du kannst mich einfach so in Staub
verwandeln. Wie sollte ich die Zeit aufhalten?«
»Nein, das kann ich nicht!«
»Du meinst, das willst du nicht, und das ist uns beiden klar. Gibst du auf?«
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Lobsang spürte, wie Teile seines Körpers sich vom Rest lösen wollten.
Seine Schultern brannten. Ich kann die fleischliche Existenz aufgeben, dachte er. Ja, ein Gedanke genügt, um ihn in Staub zu verwandeln. Und dann verliere ich. Ich würde das Dojo verlassen, und er wäre tot, und ich hätte verloren.
»Mach dir keine Sorgen, Junge«, sagte Lu-Tze; seine Stimme klang jetzt ruhig. »Du hast nur Regel Neunzehn vergessen. Gibst du auf?«
»Regel Neunzehn?«, fragte Lobsang und versuchte, sich
hochzustemmen. Schier unerträglicher Schmerz zwang ihn wieder nach
unten. »Meine Güte, was hat es denn mit Regel Neunzehn auf sich? Ja, ja, ich gebe auf!«
»Denk daran, nie Regel Eins zu vergessen«, sagte Lu-Tze. Er ließ los.
»Und frage dich immer: Wie kam es überhaupt zu dieser Regel?«
Lu-Tze stand auf und fuhr fort: »Aber du hast gute Leistungen gezeigt, alles in allem, und deshalb bin ich als dein Lehrer bereit, dich für die gelbe Kutte zu empfehlen. Außerdem…« Er senkte die Stimme zu einem
Flüstern. »…haben alle Zuschauer gesehen, wie ich den Sieg über die
Zeit errungen habe, und das macht sich bestimmt gut in meinem
Lebenslauf, wenn du verstehst, was ich meine. Es verleiht der Regel Eins noch mehr Nachdruck. Komm, ich helfe dir hoch.«
Er streckte die Hand aus.
Lobsang wollte danach greifen, doch dann zögerte er. Lu-Tze grinste
erneut und zog ihn auf die Beine.
»Aber nur einer von uns kann das Dojo verlassen, Kehrer«, sagte
Lobsang und rieb sich die Schultern.
»Wirklich?«, erwiderte Lu-Tze. »Wenn man das Spiel spielt, verändern sich die Regeln. Scheren wir uns einfach nicht darum.«
Viele Mönchshände stießen die Reste der Tür beiseite. Gewisse
Geräusche verrieten, dass jemand mit einem Gummiyak geschlagen
wurde. » Keks !«
»Und ich schätze, der Abt kommt, um dir die Kutte zu übergeben«,
sagte Lu-Tze. »Bitte verkneif dir Kommentare, wenn er ein wenig
sabbert.«
Sie verließen das Dojo und gingen zur langen Terrasse, gefolgt von
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allen Seelen in Oi Dong.
Es folgte eine ungewöhnliche Zeremonie, fand Lu-Tze, als er später
darüber nachdachte. Der Abt schien nicht übermäßig ehrfürchtig zu sein, denn Babys wissen mit Ehrfurcht kaum etwas anzufangen und erbrechen
sich auf alle Leute. Außerdem mochte Lobsang Herr über die Abgründe der Zeit sein, aber der Abt war Herr über das Tal, deshalb ging der
Respekt in beide Richtungen.
Doch beim Überreichen der Kutte ergaben sich gewisse
Schwierigkeiten.
Lobsang lehnte sie ab. Während der leise Wind eines verblüfften
Raunens durch die Menge ging, erkundigte sich der Chefakolyth nach
dem Grund.
»Ich bin nicht würdig, Herr.«
»Lu-Tze hat verkündet, dass deine Ausbildung beendet ist, o He… ich
meine, Lobsang Ludd.«
Lobsang verneigte sich. »Dann nehme ich den Besen und die Kutte
eines Kehrers, Herr.«
Aus dem leisen Wind wurde ein Orkan, der über das Publikum
hinwegdonnerte. Köpfe drehten sich. Hier und dort wurde schockiert
nach Luft geschnappt. An manchen Stellen erklang nervöses Lachen.
Und die Kehrer, denen man erlaubt hatte, die Arbeit zu unterbrechen
und dem Ereignis beizuwohnen, waren aufmerksam still.
Der Chefakolyth befeuchtete sich die plötzlich trockenen Lippen.
»Aber… aber… du bist die Verkörperung der Zeit…«
»In diesem Tal bin ich so würdig wie ein Kehrer, Herr«,
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