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Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis
Autoren: Ilsa J. Bick
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ungewöhnliche Erfahrung gemacht.« Er schaute mich fragend an, aber ich hielt es für besser, nicht darauf einzugehen. Als ich nichts sagte, wechselte er das Thema. »Willst du immer noch wissen, was mit den Juden aus Winter passiert ist? Es gibt nicht mehr viele Unterlagen. Das meiste ist … Es hat sich nach so langer Zeit einfach erledigt. Wir Juden müssen uns immer wieder ermahnen, nicht nur in der Vergangenheit zu leben. Viele Juden definieren sicheinzig und allein über den Holocaust, dabei hat unser Volk eine jahrtausendealte Geschichte. Natürlich soll man sich erinnern und aus der Vergangenheit lernen, aber man soll deswegen nicht stehenbleiben.«
    Das gab mir zu denken. Wollte ich überhaupt noch etwas von ihm wissen? Das Schicksal der jüdischen Gemeinde in Winter interessierte mich immer noch. Es kam mir aber auch vor, als hätte ich auf meine Art mit dem Thema abgeschlossen. Inzwischen hatte ich schon so vieles in Erfahrung gebracht, da konnte ich die Lücken bestimmt auch noch irgendwann füllen.
    Was ich dann schließlich fragte, überraschte mich selbst. »Ich wüsste gern, was aus dem Friedhof geworden ist. Es gab doch bestimmt einen.«
    Rabbi Saltzman schob seinen Stuhl zurück. »Soll ich ihn dir zeigen?«
    + + +
    »Das ist alles?«, fragte ich.
    »Alles, was noch übrig ist. Besonders eindrucksvoll ist es leider nicht.«
    Das fand ich nicht unbedingt. Wir standen am Rand des Waldstücks mit den Weymouth-Kiefern, von denen es hieß, die Schiffsbauer hätten sie gepflanzt. Das erzählte ich Rabbi Saltzman, aber er zuckte nur die Achseln.
    »Die Leute erinnern sich an das, was ihnen in den Kram passt, man braucht es nur oft genug zu wiederholen. In Wirklichkeit haben die Mitglieder der jüdischen Gemeinde, als sie von hier fortzogen, ihre Verstorbenen mitgenommenund die Bäume gepflanzt. Nur die heiligen Schriften haben sie dagelassen.« Auf meinen fragenden Blick hin fuhr er fort: »Wir glauben, dass man Gottes Wort nicht wegwerfen darf. Darum wird jedes unbrauchbar gewordene Gebetsbuch, jede Thorarolle und jedes andere Buch, in dem Gott erwähnt wird oder das auf Hebräisch verfasst ist, in einem Schrein aufbewahrt, der Geniza. Alle sieben Jahre wird der Inhalt der Geniza auf einem jüdischen Friedhof begraben.«
    »Das heißt, die Bücher und Thorarollen liegen noch hier unter der Erde?«
    »Richtig. Allerdings dürften sie inzwischen selbst zu Erde geworden sein, beziehungsweise zu Bäumen.«
    Ich hatte ja schon immer gespürt, dass an dem Kiefernwald etwas Besonderes war. Wie oft hatte ich auf dem geheiligten Boden gelegen, und ein unendlicher Friede war über mich gekommen. »Und warum haben sie ihre Verstorbenen mitgenommen?«
    Der Rabbi betrachtete versonnen das schattige Wäldchen, in dem ein Windhauch die Zweige bewegte. »Wegen Josef und seinen Gebeinen. Du kennst die Geschichte sicher aus der Bibel.«
    »Nein.«
    »Kurz vor seinem Tod mussten die Israeliten Josef versprechen, dass sie seine Gebeine mitnähmen, wenn sie Ägypten verlassen würden: ›Wenn euch Gott heimsuchen wird, so nehmt meine Gebeine mit von hier.‹ Sie hielten ihn wahrscheinlich für übergeschnappt, weil es ihnen in Ägypten gut ging und sie nicht ans Wegziehen dachten, aber sie versprachen es ihm. Doch dann wurden sie von den Ägyptern versklavt. Als Gott Moses und Aaron befahl, ihr Volk in dieFreiheit zu führen, sammelte Moses Josefs Gebeine ein und nahm sie mit.«
    »Und hat er die Gebeine auch wieder begraben?«
    »Nein, denn Moses war es nicht vergönnt, ins gelobte Land zu kommen. Aber Josua bestattete Josefs sterbliche Überreste schließlich auf einem Stück Land, das Josefs Vater Jakob vor langer Zeit gekauft hatte.«
    »Und deswegen nehmen Sie jetzt Mr Witeks Sarg mit.«
    »Richtig. Ich habe auch für die sterblichen Überreste seines Vaters Vorsorge getroffen, sobald die Rechtsmedizin sie freigibt.« Rabbi Saltzman stockte, dann sagte er: »Und für das Baby. Auch wenn sich herausstellen sollte, dass es nicht mit den Witeks verwandt ist.«
    Davon ging ich zwar nicht aus, fragte aber trotzdem: »Wieso?«
    »Weil ich es richtig finde. Wer soll das Kind sonst betrauern?«
    Niemand , dachte ich. Niemand außer mir.
    + + +
    Vielleicht war meine Müdigkeit schuld. Oder es lag am Einfluss des Wäldchens, keine Ahnung.
    Jedenfalls erzählte ich Rabbi Saltzman alles. Fast alles. Das mit Tante Jean und Miss Stefancyzk und so weiter natürlich nicht. Das hatte ja nichts mit David Witek zu tun.
    Aber ich
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