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Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis
Autoren: Ilsa J. Bick
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teilte sich strudelnd, nur der eine oder andere Fangarm zupfte zaghaft an meiner Haut und meinen Haaren.
    Dann ballte sich das Licht plötzlich zu einem gewaltigen Strahl, schoss an mir vorbei, und Dekker schrie schrill auf.
    Die Lichtstrudel hüllten Dekker ein, bildeten einen Trichter wie ein Tornado, rissen morsche Äste von den Bäumen, wirbelten welkes Laub auf und verleibten alles dem immer breiteren Trichter ein. Dann bildete sich um Dekker eine Art violettes Netz, und überall, wo ihn die Fäden berührten, qualmten seine Klamotten. Sein schwarzer Umhang schrumpelte zusammen, dann schlug sogar seine Haut Blasen. Die Gruselmaske schmolz und tropfte herunter. Er riss den Mund weit auf, und das sengende Licht strömte in seine Kehle, ätzte seine Stimme weg und fraß sich wie Säure in ihn hinein.
    Ich hätte gern weggeschaut, aber ich wusste, dass ich hinsehenmusste. Ich hatte die Heerscharen des Lichts herbeigerufen. Ich hatte sie herbeigemalt.
    Hätte ich sie aufhalten können? Ich weiß es nicht.
    Aber ich hätte es auch gar nicht gewollt.
    Das violette Licht begann zu flackern, zog sich zu einem dichten Schleier zusammen, sodass ich nicht mehr durchschauen konnte. Es roch betäubend nach verkohltem Fleisch, Latex und Holz und nach einem unnatürlichen Feuer.
    Dann war es vorbei. Keine Ahnung, woran das Licht das merkte, aber vielleicht war es wie bei jedem Kampf – man spürt, wenn der Feind tot ist.
    Daraufhin zog sich das Licht sofort zurück, strömte eilig wieder auf die Tür zu, begleitet von leisem Raunen und Zischeln – so wie eine Schlange in ihren dunklen Bau gleitet. Das Licht kehrte raunend auf die andere Seite zurück, und ich stolperte hinterher, weil ich mich vergewissern wollte, dass …
    Ich spähte durch die offene Tür in den gleißenden Abgrund hinab. Alles war so, wie ich es mir vorgestellt hatte: die wüste Landschaft, die kahlen, knorrigen Bäume und der schroffe Berg.
    Ich sah aber auch noch etwas anderes: mein eigenes Gesicht, blendend hell, als spähte ich in die Sonne wie in einen Spiegel.
    Komm! , raunte und zischelte das Licht, und ein Geruch stieg mir in die Nase, ein überirdisch betörender Duft, sodass ich mich am liebsten in mein Gesicht dort unten hineingestürzt hätte. Du brauchst nur durch die Tür zu gehen!
    Ich brauchte mich nur fallen zu lassen …
    Plötzlich hörte ich Onkel Hank rufen: »Christian! CHRISTIAN ! « In seiner Stimme schwang Panik mit. Panik – und Liebe.
    Doch ich konnte mich nicht überwinden, seinen Ruf zu erwidern. Denn ich musste mich hier und jetzt entscheiden. Ich liebte meine Mutter – oder liebte ich nur eine Erinnerung? Eine Illusion?
    Ich konnte es beim besten Willen nicht sagen. Ich steckte in der Zwickmühle zwischen zwei Welten. Beide Welten wollten etwas von mir und versprachen mir als Belohnung Liebe.
    »Christian?« Ich hörte, dass Onkel Hank in die verkehrte Richtung lief. Wenn er mich finden sollte, musste ich antworten.
    Du brauchst nur die Hand auszustrecken , hatte Dr. Rainier gesagt.
    Ich hörte jemanden stöhnen – Sarah.
    Sie lag immer noch zusammengerollt auf der Erde. Allein würde sie niemals aus dem Wald herausfinden.
    Das durfte ich ihr nicht antun, nicht Sarah, die immer nett zu mir gewesen war und sich um mich bemüht hatte.
    Ich kehrte der Tür den Rücken.
    Warte!, zischelte das Licht. Komm!, lockte mein Doppelgänger.
    »Mom.« Sarah wiegte sich schluchzend hin und her. »Mom, Mommy!«
    Komm!
    Ich traf eine Entscheidung.
    Ich schloss die Tür. Ich scharrte mit dem Schuh über den Boden, bis sie verschwunden war, aber ich weinte dabei. Das Licht wurde schwächer, dann erlosch es.
    Ich ging zu Sarah, nahm sie in die Arme und rief nach meinem Onkel.
    Und ich ließ Sarah nicht mehr los, bis er uns beide gefunden hatte.

XXXVI
    Onkel Hank bestand darauf, dass ich mich im Krankenhaus von Kopf bis Fuß untersuchen ließ, obwohl ich ihm versicherte, dass das nicht nötig war. Mrs Schoenberg wurde bereits notoperiert. Onkel Hank hatte gehört, dass sie eventuell per Hubschrauber nach Milwaukee geflogen werden sollte.
    »Kommt sie durch?«, fragte ich. Wir saßen im Warteraum, weil Pfarrer Schoenberg noch nicht eingetroffen war und ich dableiben wollte, bis er kam. Sarah hatte ich zuletzt gesehen, als die Sanitäter sie in den zweiten Krankenwagen geschoben hatten. Aber von Onkel Hank wusste ich, dass Dr. Rainier bei ihr war.
    »Wenn Mrs Schoenberg durchkommt, wird sie nicht mehr dieselbe sein«, sagte Onkel Hank ernst.
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