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Der Wolkenpavillon

Der Wolkenpavillon

Titel: Der Wolkenpavillon
Autoren: Laura Joh Rowland
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Weisheit am Ende. Ihr steht in dem Ruf, ein hervorragender Ermittler zu sein. Deshalb bitte ich Euch, meine Tochter zu suchen.«
    Sano konnte ihm diese Bitte nicht abschlagen. Sein Sohn Masahiro war nicht der einzige Familienangehörige gewesen, der entführt worden war; auch seine Frau Reiko war sieben Jahre zuvor verschleppt worden. Wäre es Sano nicht gelungen, sie zu befreien, hätte er seine Gemahlin verloren und Masahiro seine Mutter. Deshalb konnte er einer Familie, die sich in einer ähnlich schrecklichen Lage befand, seine Hilfe nicht verweigern.
    »Ich weiß, Ihr schuldet mir nichts«, sagte Major Kumazawa. »Und Ihr seid verbittert wegen der Ereignisse in der Vergangenheit. Aber das könnt Ihr nicht Chiyo zum Vorwurf machen. Sie war noch nicht einmal geboren, als meine Eltern Eure Mutter verstoßen haben. Und Chiyo hat auch nichts damit zu tun, dass mein Klan Eure Familie all die Jahre gemieden hat. Helft Chiyo um ihretwillen, nicht um meinetwillen. Oder wollt Ihr, dass ich vor Euch im Staub krieche? Also gut. Ich tue alles, um meine Tochter zu retten!«
    Major Kumazawa ließ sich so plötzlich auf die Knie fallen, als wären ihm die Sehnen durchtrennt worden. Er kniete vor Sano im Schlamm wie ein General, der eine Schlacht verloren hatte und nun Selbstmord begehen musste, um einem Leben in Schande zu entrinnen. Er nahm seinen Helm ab. Der Wind spielte mit ein paar grauen Strähnen, die sich aus seinem Haarknoten gelöst hatten. Zum ersten Mal wirkte Kumazawa schwach und verletzlich. In seinen Augen spiegelte sich ein stummes Flehen, als er zu Sano aufblickte.
    Sano hatte sich mehr als einmal ausgemalt, wie sein Onkel vor ihm kniete und sich jenem Mann unterwarf, dessen Mutter er zu einem Leben in Schande verdammt hatte. Nun aber empfand er keine Genugtuung, sondern nur Mitleid.
    »Also gut«, sagte Sano. »Ich stehe zu Euren Diensten.«
    Er hoffte seit Langem auf eine Gelegenheit, den Klan seiner Mutter kennenzulernen, ohne das Gesicht zu verlieren. Nun bot sich diese Gelegenheit. Vielleicht gelang es ihm sogar, seine Mutter und ihre Familie miteinander zu versöhnen, zumal er wusste, dass das ein Herzenswunsch Etsukos war.
    Major Kumazawa neigte den Kopf. »Ich danke Euch«, sagte er. In seiner Stimme lag eher Verbitterung als Erleichterung, als hätte nicht Sano ihm einen Gefallen getan, sondern umgekehrt. Wenngleich Sano wusste, dass sein Onkel soeben das Gesicht verloren hatte - das Schlimmste, das einem stolzen Samurai passieren konnte -, ärgerte es ihn, dass Kumazawa ihm so wenig Achtung und Dankbarkeit entgegenbrachte. Aber was hätte er auch anderes erwarten können?
    »Dankt mir noch nicht«, sagte Sano. Es gab keine Gewissheit, dass er Chiyo lebend wiederfand. Sie war seit zwei Tagen verschwunden - so lange, dass man das Schlimmste befürchten musste. »Ich kann Euch nichts versprechen.«

3.

    Die Leiche des jungen Samurai lag inmitten von Schwertlilien und Schilf neben einem Teich, dessen Oberfläche von einer schleimigen Schicht aus Grünalgen überzogen war. In der Herzgegend war der Kimono des Toten rot von Blut. Eine Mücke ließ sich zwischen seinen geschlossenen Augen nieder.
    Die Hand der Leiche zuckte hoch und zerquetschte die Mücke.
    »Nicht bewegen!«, rief Masahiro, der Sohn des Kammerherrn Sano Ichirō, der sich hinter einem Baum in der Nähe versteckte. Der knapp zehnjährige Junge hatte große Ähnlichkeit mit seinem Vater. Er war mit Kimono, Waffenrock und Hose bekleidet und trug zwei Schwerter an der Hüfte. Sein Haar war zu einer Stirnlocke gebunden, wie es üblich war bei jungen Samurai, die das Mannbarkeitsalter noch nicht erreicht hatten. »Du bist doch tot!«
    »Tut mir leid, junger Herr, aber diese Biester fressen mich bei lebendigem Leib«, erwiderte der Samurai mit kläglicher Stimme. »Wie lange soll ich hier denn noch liegen?«
    Masahiro schlich sich über den Rasen an den Samurai heran. »Bis ich deine Leiche gefunden habe.«
    Reiko, die Gemahlin des Kammerherrn, trat hinaus auf die Veranda. In ihrem grünen seidenen Sommerkimono, der mit einem Muster aus Libellen und Seerosen bedruckt war, sah sie wunderschön aus. Kämme aus schwarzem Lack hielten ihr aufgestecktes Haar. »Was ist denn hier los?«, rief sie.
    »Ich spiele Ermittler!«, rief Masahiro. »Leutnant Tanuma ist das Mordopfer!«
    »Oh nein, nicht schon wieder«, seufzte Reiko.
    Sie wusste nicht recht, was sie von dem ständigen Detektivspielen ihres Sohnes halten sollte. Einerseits war sie stolz auf
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