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Der Wolkenpavillon

Der Wolkenpavillon

Titel: Der Wolkenpavillon
Autoren: Laura Joh Rowland
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ausgemalt, er würde seinen Onkel auf sein Anwesen einladen, ihn mit seiner prachtvollen Villa beeindrucken und dem ganzen Kumazawa-Klan zeigen: Seht her, ich habe es auch ohne eure Hilfe zu etwas gebracht! Jetzt schämte sich Sano für diese kindischen Gedanken, denn nun stand er seinem Onkel gegenüber, durchnässt bis auf die Haut, die Kleidung voller Algen und Pferdemist. Er kam sich vor wie ein zerlumpter Bettler, nicht wie der Stellvertreter des Shōgun.
    »Ich nehme an, Ihr seid nicht gekommen, um mir Fragen über meine Mutter zu stellen«, sagte Sano in kaltem, förmlichem Tonfall.
    »So ist es«, erwiderte Major Kumazawa ebenso frostig. »Trotzdem frage ich, wie geht es Etsuko?«
    »Ganz gut«, erwiderte Sano und fügte in Gedanken hinzu: Was sie allerdings mir zu verdanken hat, nicht dir und deinem Klan. »Vor elf Jahren, als mein Vater starb, ist sie Witwe geworden.« Und mein Vater war jener herrenlose Samurai, der rōnin, den Etsuko auf Druck deiner Familie heiraten musste, damit ihr sie loswurdet. »Im Herbst letzten Jahres hat sie wieder geheiratet.« Und zwar den Mann, mit dem sie damals die verbotene Affäre hatte, die der Grund dafür war, dass deine Familie sie verstoßen hat. »Meine Mutter und ihr neuer Ehemann wohnen in Yamato.«
    Im Zuge der damaligen Mordermittlungen war Etsuko ihrer Jugendliebe wiederbegegnet, dem einstigen Mönch Egen. Ihre Liebe hatte die vielen Jahre überdauert, und so hatte Etsuko ihr altes Leben aufgegeben und war zu Egen in das Dorf gezogen, in dem er sich niedergelassen hatte.
    »Ich habe davon gehört«, sagte Major Kumazawa. »Aber ich bin nicht verantwortlich für das, was mit Eurer Mutter geschehen ist. Mein Vater hat Etsuko verstoßen. Als ich nach seinem Tod zum Oberhaupt unseres Klans wurde, habe ich lediglich seinen Wunsch respektiert. Wärt Ihr an meiner Stelle gewesen, hättet Ihr nicht anders handeln können.«
    Sano schüttelte den Kopf. Er wäre Etsuko gegenüber niemals so grausam und unerbittlich gewesen. Natürlich wusste er, wie unsinnig es war, über Geschehnisse wütend zu sein, die so viele Jahre zurücklagen, aber er fühlte sich von Kumazawa persönlich getroffen.
    »Und warum kommt Ihr jetzt zu mir, wo Ihr so viele Jahre lang dafür gesorgt habt, dass Euer Klan sich von meiner Mutter und mir ferngehalten hat?«, fragte Sano.
    Major Kumazawas Antwort kam stockend und widerstrebend, so als würde er einen inneren Kampf gegen seinen Stolz ausfechten. »Weil ... weil ich Euch um einen Gefallen bitten möchte.«
    »Aha«, sagte Sano und musterte seinen Onkel mit verächtlichem Blick. »Das hätte ich mir denken können.« Seit Sano das Amt des Kammerherrn bekleidete, standen die Menschen vor der Tür Schlange, damit er ihnen einen Gefallen erwies.
    »Glaubt Ihr vielleicht, es gefällt mir, dass ich als Bittsteller zum Sohn meiner verstoßenen Schwester kommen muss?«, stieß Kumazawa zornig hervor. »Glaubt Ihr, ich würde Euch gern um einen Gefallen bitten?«
    »Sicher nicht«, erwiderte Sano. »Deshalb werde ich Euch diese Peinlichkeit ersparen.«
    Er drehte sich um und ging in Richtung des Tores in der steinernen Mauer, die den Kampfplatz umschloss. Hinter dem Tor befanden sich die Residenz des Shōgun und das Wohnviertel der Beamten, wo auch Sanos luxuriöse Villa stand. Es war eine Welt der Reichen und Mächtigen, in der Sano sich einen Platz erkämpft hatte. Er war überhaupt nicht neugierig, welche Bitte sein Onkel an ihn richten wollte. Wahrscheinlich ging es um Geld, um eine Beförderung oder um eine Anstellung für einen Freund oder einen Verwandten. So war es immer.
    »Wartet!«, rief Kumazawa. »Geht nicht!«
    Der Zorn war aus seiner Stimme verschwunden. Nun lag ein so flehender Ton darin, dass Sano stehen blieb. »Ich kann ja verstehen, dass Ihr mir nicht helfen wollt«, fuhr Kumazawa fort. »Aber ich bitte Euch nicht um meinetwillen um einen Gefallen. Es geht um jemand anders. Um jemanden, der mit dem Schicksal Eurer Mutter nichts zu tun hat. Um jemanden, der keiner Fliege etwas zuleide getan hat, der nun aber in höchster Gefahr schwebt.«
    Sano drehte sich zu Kumazawa um. Seine Ehre und sein Gewissen erlaubten es ihm nicht, einfach zu gehen, wenn ein Unschuldiger in Gefahr schwebte. Er blickte seinen Onkel an und fragte: »Um wen geht es?«
    Kumazawas harte Züge wurden noch härter, so als wollte er auf diese Weise seine Gefühle verbergen. »Um meine Tochter.«
    Sano wusste, dass Kumazawa drei Töchter und zwei Söhne hatte -
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