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Der Wolkenpavillon

Der Wolkenpavillon

Titel: Der Wolkenpavillon
Autoren: Laura Joh Rowland
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Unterkünfte. Bis auf die Haut durchnässt, zogen sie johlend und lachend davon, um zu feiern und ihre Wunden zu versorgen. Stallburschen kümmerten sich um die Pferde.
    Der Shōgun stieg in seine Sänfte und ließ sich in seine Residenz auf dem Palastgelände bringen. Yanagisawa blickte über Sanos Schulter. »Ich glaube, da will Euch jemand sprechen«, sagte er.
    Sano drehte sich um. Ungefähr dreißig Schritt von ihm entfernt stand ein älterer Samurai allein bei der Tribüne. Als Sano den Mann erkannte, überkam ihn eisige Furcht.

2.

    Sano stand vollkommen regungslos da, während der Samurai über den Kampfplatz auf ihn zukam. Alles um ihn herum wurde bedeutungslos. Er hatte das seltsame Gefühl, als wären er und der Samurai ganz allein auf dem schlammigen, zertrampelten Gelände. Sano verspürte das instinktive Verlangen, das Schwert zu ziehen. Doch die Waffe war aus Holz, und diese Begegnung war kein Zweikampf auf Leben und Tod.
    Oder doch?
    Ein paar Schritte vor Sano blieb der Samurai stehen. Er war ein Mann in den Sechzigern, schlank, kräftig, sehr aufrecht, die Schultern gestrafft. Er trug einen Helm aus Eisen und einen ledernen Waffenrock; auf dem Brustharnisch prangte das Wappen der Tokugawa, das dreifache Malvenblatt. Über dem Waffenrock trug er einen silbernen Umhang, dazu eine dunkelgrau und schwarz gestreifte Hose. Ein Abzeichen am Helm ließ erkennen, dass er den Rang eines Heeresmajors bekleidete. Seine Stirn war gefurcht, und tiefe Falten kerbten seine Mundwinkel.
    »Ich grüße Euch«, sagte er und verbeugte sich. »Erlaubt mir, dass ich mich vorstelle.« Die tiefe Stimme des Mannes war leicht zittrig vom Alter und klang eigenartig vertraut. »Ich bin Kumazawa Hiroyuki.«
    »Ich weiß«, entgegnete Sano.
    Er war Major Kumazawa noch nie persönlich begegnet; sie hatten nie auch nur ein Wort miteinander gewechselt. Doch Sano hatte den Mann von Weitem beobachtet und kannte dessen Personalakte; überdies hatte er geheime Nachforschungen über ihn anstellen lassen. Außerdem lag in Sanos Schreibpult ein Dossier über den Kumazawa-Klan, das er im Zuge einer Mordermittlung im Jahr zuvor hatte erstellen lassen. Bei dieser Ermittlung war Sano auf bislang unbekannte Informationen über seine eigene Herkunft gestoßen. Sein Leben lang hatte er geglaubt, seine Mutter, Etsuko, stamme aus einer bescheidenen bäuerlichen Familie. Erst als Etsuko im Jahr zuvor eines Verbrechens angeklagt worden war, das sie in ihrer Jugend begangen hatte, hatte Sano die Wahrheit erfahren. Etsuko stammte aus einer Familie hochrangiger Tokugawa-Gefolgsleute. Nachdem sie als junges Mädchen einen Fehler gemacht hatte, war sie von ihrer Familie verstoßen worden, und sie hatte sie nie wiedergesehen.
    In Sano loderte Zorn auf. Major Kumazawa war das Oberhaupt des Klans, der seine Mutter so grausam behandelt hatte.
    »Wisst Ihr, wer ich bin?«, fragte Sano.
    »Ja«, antwortete Kumazawa knapp. Er wusste, dass Sanos Frage nicht auf seinen Rang als Kammerherr abzielte, sondern auf etwas ganz anderes. »Ihr seid der Sohn meiner jüngeren Schwester Etsuko.« Der Major spie diese Worte hervor, als hätte er einen bitteren Geschmack auf der Zunge. »Ihr seid mein Neffe.«
    Es war tatsächlich so, wie Sano vermutet hatte. Er selbst hatte bis zum vergangenen Jahr nichts von seinen verwandtschaftlichen Beziehungen zum Klan seiner Mutter gewusst; den Kumazawa hingegen war die ganze Zeit bekannt gewesen, dass in Sanos Adern ihr Blut floss. Wahrscheinlich hatten sie Sano und Etsuko all die Jahre im Auge behalten und Sanos Laufbahn verfolgt.
    Sanos Wut wurde noch größer. Die Kumazawa hatten ihn ausspioniert, aber sie hatten nie versucht, Verbindung mit ihm aufzunehmen. Die Tatsache, dass auch jede andere vornehme Familie in einer ähnlichen Situation genauso gehandelt, Etsuko verstoßen und ihren Sohn nicht als ihresgleichen behandelt hätte, konnte Sanos Zorn nicht besänftigen. Er empfand es als Beleidigung, dass die Kumazawa ihn und seine Mutter so viele Jahre lang mit Missachtung gestraft hatten.
    Ein Teil der Schuld lag allerdings bei Sano selbst. Seit er von seinen neuen Verwandten wusste, hatte er Verbindung mit ihnen aufnehmen wollen, hatte es aber immer wieder hinausgeschoben, denn seine Amtsgeschäfte und seine Aufgaben als Ratgeber des Shōgun nahmen ihn zu sehr in Anspruch. Sano hatte einfach keine Zeit gehabt, sich mit den Kumazawa in Verbindung zu setzen - zumindest hatte er sich das eingeredet. Doch insgeheim hatte er sich oft
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