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Der Wolkenpavillon

Der Wolkenpavillon

Titel: Der Wolkenpavillon
Autoren: Laura Joh Rowland
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Cousinen und Vettern, denen Sano noch nie begegnet war.
    »Sie heißt Chiyo«, fuhr der Major fort, »und sie ist mein jüngstes Kind.«
    »Und was ist mit ihr?« Sano kannte den Namen der jungen Frau aus seinem Dossier. Chiyo war einunddreißig Jahre alt und mit einem Hauptmann verheiratet, der in der Armee eines reichen und mächtigen daimyo diente. Sie hatte sehr spät geheiratet, erst mit siebenundzwanzig. Von seinen Informanten wusste Sano, dass Chiyo die Lieblingstochter ihres Vaters war; der Major hatte ihre Heirat so lange hinausgeschoben, bis er den bestmöglichen Ehemann für sie gefunden zu haben glaubte.
    »Chiyo ist verschwunden«, sagte Major Kumazawa.
    Sano musste an jenen schrecklichen Winter denken, als sein Sohn Masahiro entführt worden war. Damals hatten Sano und seine Frau Reiko schrecklich darunter gelitten, dass sie nicht wussten, was mit ihrem Sohn geschehen war, und hatten schon das Schlimmste befürchtet. Sanos Widerstand gegen seinen Onkel bröckelte.
    »Ich weiß, dass Chiyo Euch nichts angeht, aber hört mich bitte an«, sagte Kumazawa, dem es sichtlich widerstrebte, als Bittsteller aufzutreten.
    »Also gut.« Sano nickte. Er musste seinen Onkel anhören; das zumindest war er ihm schuldig. »Erzählt.«
    »Chiyo ist seit vorgestern verschwunden. Sie wollte zum Tempel in Awashima.« Sichtlich erleichtert über Sanos Reaktion berichtete der Major, was vorgefallen war. »Sie hat vor einem Monat ein Kind bekommen, einen Jungen.« Es war Brauch, dass Mütter mit ihrem Säugling einen Tempel aufsuchten, um den Segen der Götter zu erbitten. »Chiyo wurde von ihren Dienerinnen und ihren Leibwächtern begleitet, als sie sich durch die Menschenmenge gedrängt hat. Und auf einmal« - der Major hob die Hände, und Angst spiegelte sich nun in seinen harten Zügen - »war sie ... verschwunden.«
    »Was ist mit dem Kind?«
    »Es wurde vor dem Tempel gefunden. Ihm ist nichts geschehen, den Göttern sei Dank«, antwortete Kumazawa. »Die Leibwächter haben anschließend nach Chiyo gesucht, aber ohne Erfolg. Dann kehrten sie nach Hause zurück und haben mir und meinem Schwiegersohn berichtet, was vorgefallen war. Wir haben sofort eine Truppe aus sämtlichen verfügbaren Gefolgsleuten zusammengestellt und sie zum Awashima-Tempel geschickt, damit sie weiter nach Chiyo suchen. Die Männer halten sich immer noch dort auf, haben bisher aber keine Spur von ihr entdeckt. Es ist, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.«
    Sano wusste, dass sein Onkel eine Garnison der Tokugawa-Armee unweit von Edo befehligte und dass auch sein Schwiegersohn ein kleines Heer auf die Beine stellen konnte, wenn es sein musste. Trotzdem waren es viel zu wenig Männer, um im riesigen Edo eine gründliche Suche vorzunehmen. »Habt Ihr Chiyos Verschwinden der Polizei gemeldet?«
    »Natürlich. Ich war auf der Hauptwache. Dort hat man meinen Bericht zu Protokoll genommen und mir versprochen, nach Chiyo zu suchen.« Kumazawa schnaubte verächtlich. »Mehr könne man nicht tun, hat man mir gesagt.«
    Sano wusste, dass die Polizei alle Hände voll zu tun hatte, um die Ordnung in Edo aufrechtzuerhalten. Die Beamten konnten nicht alles stehen und liegen lassen, um nach einer einzelnen Frau zu suchen, selbst wenn deren Vater aus einer hoch angesehenen Familie stammte. Und auch der Rang eines Majors rechtfertigte keine groß angelegte Suchaktion.
    »Könnte Chiyo weggelaufen sein?«, fragte Sano.
    »Ausgeschlossen. Sie hätte ihren Gemahl und ihre Kinder nicht ohne irgendeine Erklärung verlassen.«
    »Vielleicht wurde sie entführt.«
    »Natürlich wurde sie entführt, was sonst!« Die unüberhörbare Sorge um seine Tochter nahm Kumazawas Erwiderung die Schärfe. »Die Leute verschwinden nicht einfach vom Erdboden, ehrenwerter Kammerherr!«
    »Gibt es jemanden, der Chiyo etwas antun will?«
    »Nein. Sie ist eine liebe, freundliche Frau.«
    »Habt Ihr Feinde?«
    »Natürlich. So wie jeder Mann, der es zu einigem Ansehen gebracht hat«, antwortete Major Kumazawa. »Gerade Ihr solltet das wissen. Ich habe bereits mit ein paar Männern geredet, die aus diesem oder jenem Grund nicht gut auf mich zu sprechen sind. Sie alle behaupten, sie hätten nichts mit Chiyos Verschwinden zu tun, und ich glaube ihnen.« Er verstummte und fügte bitter hinzu: »Auch wenn diese Männer mich angeschaut haben, als hätte ich den Verstand verloren.«
    »Hat Chiyo einen Abschiedsbrief hinterlassen?«
    »Nein«, erwiderte der Major und seufzte. »Ich bin mit meiner
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