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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
Autoren: Tom Pollock
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Taschenlampen angeknipst hatte, die sie in der Unterführung aufbewahrte, kam sie einigermaßen zur Ruhe. Sie starrte auf die Wände ringsum.
    Geschmeidige chinesische Drachen jagten winzige Doppeldecker über die Ziegelsteinmauern, in ihrem Gefolge Hofnarren und Skelette, die miteinander Walzer tanzten. Eine riesige Hand schwebte wählerisch über einem Obstkorb voller Planeten. Kraken wickelten sich um Anker, Wölfe heulten, Schlangen kämpften, Städte erhoben sich aus dichtem Gewölk. Diese kleine Höhle unter der Mile End Road war Beths Allerheiligstes: Fünf Jahre ihrer Fantasie, ihrer Vorstellungskraft waren auf diese Wände gesprayt.
    Sie betastete sie, fuhr mit den Händen über ihre Textur, die sich anfühlte wie verschrammte Haut. »Was mach ich jetzt, Leute?« Ihre Stimme hallte durch den Tunnel, und Beth brach in ein unnatürliches Lachen aus. Mit ihren Kunstwerken redete sie nur dann, wenn die Dinge schlecht standen; sie mussten Tod-des-Erstgeborenen-schlecht stehen, wenn sie es laut tat.
    Normalerweise würde sie sich Schablonen und Spraydosen schnappen und die Stadt umgestalten, sich eine Zuflucht schaffen inmitten all des Betons, Platz zum Atmen. Nicht heute Abend. Nicht ohne Pen, die all das sonst mit ihr teilte. Heute Abend fühlte sie sich ausgeschlossen aus ihrer Stadt.
    Pen.
    Die Wut durchlief sie wie der sprühende Funke einer Schießpulver-Zündschnur, nach dem nichts als Kälte zurückblieb. Ich hab mich für dich stark gemacht. Seit wann reicht das nicht mehr? Wenn du bloß den Mund gehalten hättest, wir wären auf der sicheren Seite gewesen. Wann hatte Pen aufgehört, Beth zu vertrauen, dass sie sie beschützte?
    Ihr Blick fiel auf eine Zeichnung: eine schlichte Kreideskizze, die zwischen den anderen, ziemlich exotischen Bildern immer und immer wieder auftauchte: eine Frau, langhaarig, die dem Betrachter den Rücken zuwandte und fast herausfordernd über die Schulter zurückblickte.
    »Was mach ich jetzt?«, fragte Beth wieder, doch ihre Mutter blieb stumm. Sie existierte nur noch an zwei Orten: in Beths Gedanken und auf Beths Ziegeln, und von keinem der beiden aus gab sie je eine Antwort.
    Beth drückte ihre Wange an das kühle, schartige Mauerwerk. So blieb sie einen Augenblick stehen, dann presste sie stärker und immer stärker, bis ein brennender Schmerz von den Schürfwunden an Gesicht und Händen ausging, als könnte sie sich mit schierer Muskelkraft der Stadt unter die Haut wühlen.
    Ein leises Geräusch schnitt durch die Nacht, holte Beth abrupt aus ihrer Träumerei. Da war es wieder, eindringlich und vertraut. Mit einem Schniefen drängte sie ihre Tränen zurück. Sie war meilenweit weg von einem Ort, an dem sie dieses Geräusch hätte hören können.
    Es ertönte abermals, hallte von den Backsteinen wider: das leise Ächzen eines Zuges.
    Beth spürte eine unvermittelte Hitze auf ihrem Rücken. Sie drehte sich um und staunte mit offenem Mund an, was sie sah.
    Zwei grellweiße Lichter rauschten aus dem Dunkel des Tunnels auf sie zu, trieben Kaskaden von Müll und Laub vor sich her. Eine massige Form schälte sich aus der Schwärze, ein wuchtiger, zerklüfteter Umriss. Blaue Lichtbögen zuckten und blitzten, erleuchteten ratternde Laufräder. Ihr Klang grollte Beth in den Ohren wie naher Donner.
    Frumm-ratter-ratter …
    Beths Kleider bauschten sich in einem jähen Windstoß. Sie wollte zum Sprung ansetzen, aber es war zu spät. Sie schloss die Augen, so fest sie konnte.
    Frumm-ratter …
    Das Kreischen von Metall auf Metall ließ sie erschauern. Jeder Muskel in ihrem Körper verkrampfte, doch es gab keinen alles zermalmenden Aufprall, keine splitternden Knochen …
    Beth wagte kaum zu atmen, öffnete ihre Augen.
    Scheinwerfer, nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht, blendeten sie auf der Stelle.
    Sie taumelte vor dem gleißenden Licht zurück und verlor den Halt, stürzte und fiel rückwärts zu Boden. Ihr Herz hämmerte wie ein Schlagbohrer. Langsam gewöhnten ihre Augen sich an den grellen Schein. Was ist das , dachte sie, ein Zug?
    Nein – kein Zug, nicht ganz. Dieses Ding hatte Ähnlichkeit mit einem Zug, glich aber auf seltsame Weise mehr einem Tier . Sein Pfiff ähnelte einem Heulen, es war bedeckt mit einem Pelz aus verschlungenen Kabeln, das Fahrgestell überkrustet mit Rost und Graffiti. Die Glasscheiben seiner Fenster waren geborsten. Lange Risse klafften in seiner Hülle, wie von riesigen Klauen geschlagen.
    Das Zugwesen stieß ein hydraulisches Schnauben aus und
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