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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition)
Autoren: David Mitchell
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die Vorreiter ihre furchtsameren Spielgefährten hinauf in dieses menschliche Vogelhaus, u. weiße, braune, Kanaken-, Chinesen- u. Mulattengesichter erscheinen in der grünen Oberwelt. Manche von ihnen sind in Rafaels Alter, u. wenn ich seiner gedenke, steigt mir der bittere Geschmack der Reue in die Kehle, doch die Waisenkinder blicken grinsend auf mich hinunter, ahmen Affen nach, strecken ihre Zungen heraus oder versuchen, Kukui - Nüsse in die Münder schnarchender Genesender zu werfen, so daß meine gramvollen Gedanken nicht lange währen. Manchmal bitten sie mich um ein oder zwei Cent. Dann werfe ich eine Münze hoch, die von geschickten Fingern mit unfehlbarer Sicherheit aus der Luft gepflückt wird.
    Meine jüngsten Abenteuer haben mich zu einem rechten Philosophen gemacht, besonders nachts, wenn ich nichts höre außer dem Flusse, der in unendlicher Gemächlichkeit Felsbrocken zu Kieseln zermahlt. Meine Gedanken fließen so: Gelehrte erkennen den Gang der Geschichte u. formulieren aus diesen Abläufen Regeln, welche den Aufstieg u. Fall der Civilisationen bestimmen. Meine Überzeugung geht jedoch in die Gegenrichtung. Nämlich: Die Geschichte läßt Regeln nicht zu, sondern nur Ergebnisse.
    Was führt Ergebnisse herbei? Verwerfliche Thaten u. rechtschaffene Thaten.
    Was führt Thaten herbei? Der Glaube.
    Der Glaube ist sowohl der Lohn als auch das Schlachtfeld innerhalb des Geistes u. in des Geistes Spiegelbild: der Welt. Wenn wir glauben , daß die Menschheit eine Leiter aus Volksstämmen, eine Arena für Auseinandersetzungen, Ausbeuthung u. bestialische Grausamkeit ist, dann wird eine solche Menschheit auch erschaffen, u. die Horrox, Boerhaaves u. Gooses der Geschichte werden die Oberhand gewinnen. Ihnen u. mir, den Wohlhabenden, Bevortheilten, vom Glück Begünstigten, wird es in dieser Welt nicht allzu schlecht ergehen, vorausgesetzt, daß unser Glück Bestand hat. Was macht es schon, wenn unser Gewissen uns juckt? Warum die Vorherrschaft unserer Rasse, unserer Kanonenboote, unserer Cultur u. unseres Erbes schwächen? Warum denn ankämpfen gegen die «natürliche» (ach, welch heimtückisches Wort) Ordnung der Dinge?
    Warum? Darum: Eines schönen Tages muß eine gänzlich räuberische Welt sich selbst auffressen. Ja, der letzte wird so lange von den Hunden gebissen, bis der erste zugleich der letzte sein wird. Eigennutz entstellt die Seele eines jeden Menschen; für die menschliche Species bedeutet Eigennutz ihre Auslöschung.
    Ist dies das unserer Natur eingeschriebene Schicksal?
    Wenn wir wirklich glauben, daß die Menschheit sich über Klauen u. Zähne erheben kann, wenn wir wirklich glauben, daß unterschiedliche Rassen u. Glaubensbekenntnisse diese Welt so friedlich miteinander theilen können wie die Waisenkinder ihren Kerzenölbaum, wenn wir wirklich glauben , daß Führer gerecht sein müssen, Gewalt geächtet gehört, Macht verantwortet werden muß u. die Reichthümer der Erde u. ihrer Oceane gerecht vertheilt werden sollen, dann wird eine solche Welt auch zustande kommen. Ich mache mir nichts vor. Keine Welt wäre schwieriger zu verwirklichen. Mühsam über Generationen hin erlangte Fortschritte können durch den Federstrich eines kurzsichtigen Präsidenten oder das Schwert eines ruhmsüchtigen Generals verlorengehen.
    Ein Leben mit der Gestaltung einer Welt zu verbringen, die ich Jackson nicht voller Furcht, sondern mit Freude hinterlassen kann, das erscheint mir als ein Leben, das zu leben werth ist. Sobald ich nach San Francisco zurückkehre, werde ich mich den Zielen der Abolitionisten verpflichten, denn ich selbst verdanke mein Leben einem befreiten Sclaven, u. irgendwo muß ich anfangen.
    Ich höre schon die Worte meines Schwiegervaters. «Oho, vortrefflich, liberale Gefühlsduseley, Adam. Aber erzähle mir nichts von Gerechtigkeit! Reite auf einem Esel nach Tennessee u. überzeuge das Landgesindel davon, daß sie nur geweißte Neger u. ihre Neger geschwärzte Weiße sind! Reise in die Alte Welt u. erkläre dort, die Rechte ihrer Reichssclaven seien ebenso unveräußerlich wie die der Königin von Belgien! Oh, heiser, arm u. grau wirst du in den Wahlversammlungen werden! Man wird dich mit Orden beschwichtigen, während die Hinterwäldler dich mit Verachtung strafen! Du wirst angespien, beschossen u. gelyncht werden! Kreuzigen wird man dich! Naiver, träumender Adam. Wer gegen die Hydra der menschlichen Natur kämpft, muß dafür mit unendlichem Leid bezahlen, u. seine Familie bezahlt mit
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