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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition)
Autoren: David Mitchell
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Handschuh. Schmeißfliegen schwirrten umher, u. ein Wahnsinniger heulte, man habe Jesus den Wogen der Sargasso-See preisgegeben. Autua murmelte etwas in seiner Sprache. «Mehr Geduld, Mr.   Ewing – dieser Ort riechen Tod – ich bringe Sie zu Schwestern.»
    Wie Autuas Schwestern sich so weit von Chatham verirrt haben konnten, war ein Rätsel, das ich nicht zu lösen vermochte, doch ich vertraute mich seiner Obhuth an. Er trug mich aus dem Leichenhause, u. bald wurden die Kneipen, Wohnhäuser u. Läden seltener, ehe sie gänzlich den Zuckerrohrpflanzungen wichen. Ich wußte, daß ich Autua nach Goose fragen oder ihn vor dem Übelthäter warnen sollte, doch das Sprechen überstieg noch meine Kräfte. Eine widerliche Schläfrigkeit ergriff Besitz von mir, dann löste sie allmählich ihre Klauen. In der Ferne erhob sich ein Hügel; sein Name rührte in den untersten Schichten der Erinnerung: Diamond Head. Der Weg dorthin bestand aus Steinen, Staub u. Löchern, zu beiden Seiten umgeben von unbeugsamer Vegetation. Autua hielt unterwegs nur einmal inne, um für meine Lippen klares Quellwasser zu schöpfen, ehe wir, hinter den letzten Feldern, die katholische Mission erreichten. Eine Nonne versuchte, uns mit einem Besen zu verscheuchen, aber Autua mahnte sie auf spanisch, das ebenso gebrochen wie sein Englisch war, dem weißen Patienten Zuflucht zu gewähren. Schließlich erschien eine Schwester, welche Autua offensichtlich kannte, u. überzeugte die anderen, daß der Wilde nicht im Auftrage des Bösen, sondern der Barmherzigkeit käme.
     
    Ab dem dritten Tage war ich, dank der Errettung durch meine Schutzengel u. Autua, dem letzten freien Moriori auf Erden, imstande, mich aufzusetzen u. selbständig zu essen. Autua beharrt darauf, daß, hätte ich den Capitain nicht daran gehindert, ihn als blinden Passagier über Bord zu werfen, er mich niemals hätte retten können, so daß in gewissem Sinne nicht er mein Leben bewahrt habe, sondern ich selbst. Sei es, wie es sei, kein Kindermädchen sorgte je so zärtlich für meine umfänglichen Bedürfnisse, wie es dieser rauhe Seemann in den letzten zehn Tagen gethan hat. Schwester Véronique (die mit dem Besen) scherzt, man solle meinen Freund ordinieren u. zum Krankenhausdirector ernennen.
    Cpt. Molyneux beförderte meine Werthsachen mittels Bedfords Agenten, wobei er weder Henry Goose (oder den Giftmischer, der diesen Namen angenommen hat) noch das Salzwasserbad erwähnte, welches Boerhaave durch Autuas Hand bereitet wurde, zweifellos im Hinblicke auf den Schaden, den mein Schwiegervater seinen zukünftigen, von San Francisco aus betriebenen Geschäften zufügen könnte. Überdies ist Molyneux eifrig darauf bedacht, seinen Namen von jenem berüchtigten, unterdes als «Arsenik-Goose» bekannten Mörder reinzuhalten. Noch hat die Hafenpolizey diesen Teufel nicht verhaftet, u. ich bezweifele, daß es jemals dazu kommen wird. In dem gesetzlosen Bienenkorbe Honolulu, wo jeden Tag Schiffe aus aller Herren Länder ein- u. auslaufen, kann ein Mensch seinen Namen u. Werdegang zwischen Hauptgericht u. Dessert wechseln.
    Ich bin erschöpft u. muß mich ausruhen. Heute ist mein vierunddreißigster Geburtstag.
    Ich verbleibe in Dankbarkeit vor Gott u. all seinen barmherzigen Wohlthaten.
     
    Montag, 13. Januar ~
     
    Des Nachmittags unter dem Kerzenölbaume im Hof zu sitzen ist ein angenehmer Zeitvertreib. Lichtdurchwirkter Schatten, Frangipani u. Fransen-Eibisch vertreiben die Erinnerungen an alles kürzlich geschehene Unheil. Die Nonnen gehen ihren Pflichten nach, Schwester Martinique kümmert sich um ihr Gemüse, die Katzen führen ihre thierischen Commödien u. Tragödien auf. Ich schließe Bekanntschaft mit der hiesigen Vogelwelt. Der Palida ist an Kopf u. Schwanz von flammendem Golde, der Akohekohe ist ein Honigsauger mit schönem Kopfputze.
    Hinter der Mauer liegt ein Armenhaus für Findelkinder, das gleichfalls von den Schwestern geführt wird. Ich höre die Kinder ihr Pensum herunterleiern (ganz so, wie meine Mitschüler u. ich es einst thaten, bevor die Menschenliebe der Channings meine Aussichten verbesserte). Wenn sie ihre Aufgaben erledigt haben, widmen die Kinder sich in einem betörenden, babylonischen Sprachengewirr dem Spiele. Manchmal trutzen die wagemuthigeren unter ihnen dem Mißfallen der Nonnen, indem sie die Mauer erklimmen u. mit Hülfe der gefälligen Äste des Kerzenölbaumes einen Streifzug über den Hospizgarten unternehmen. Wenn «die Luft rein» ist, winken
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